Freitag, 21. Oktober 2022
Viola
Jetzt liege ich hier: beschädigt. Ich könnte alles aufklären, aber mich fragt ja niemand. Wenn ich so zurück denke, wie alles anfing, als ich frisch geboren aus der Werkstatt kam und man mich in die Hände eines Kindes legte, ein Kind, das vielleicht ein bisschen zu klein war oder ich war etwas zu groß, aber man sagte, das Kind würde wachsen und man könne nicht alles ständig neu anschaffen.
Und das Kind malträtierte mich, ich fürchtete um meine Stabilität. Aber es schaffte mich nicht. Nur verlor es irgendwann die Lust an mir und ließ mich liegen, irgendwo, in einer Ecke, sodass ich eines Tages aus den mir vertrauten Räumlichkeiten an einen anderen Ort verbracht wurde: in einen düsteren und muffigen Laden. Und wieder fürchtete ich um meine Stabilität, dass Pilze, die dort in der feuchten Luft herum schwirrten, mein Holz zersetzen würden. Aber sie taten es nicht, denn schon bald kam ein freundlicher, kleiner Mann in den Laden, der mich begeistert erwarb; doch nicht für sich, für seinen Sohn.
"Spiel Junge!", sagte er, "Lerne Geige spielen und das Leben wird sich viel leichter für dich anfühlen." Und das war wichtig, denn es war eine schwere Zeit für die Menschen.
Und der Junge begann zu üben und er war nicht schlecht, er ging auch pfleglich mit mir um. Aber dann wurde es schwierig für ihn. Er musste seine Heimat verlassen. Der Vater war im Krieg, die Mutter schwer krank und schließlich musste er ganz eilig aufbrechen an einen anderen Ort und schaffte es nicht mehr, alle Sachen zusammenzusuchen und ich blieb liegen, da wo ich war, an diesem Ort. Und ich bin sicher, der Vater ist nicht gut umgegangen mit seinem Sohn, dafür, dass er mich vergessen hatte. Und wieder fürchtete ich um meinen Körper.
Doch es passierte nichts. Alles war gut. Ich lag da und das Klima war nicht schlecht für mich und eines guten Tages wurde ich gefunden und ich ging durch viele Hände. Und immer ging alles gut.

Und dann kam ich zu ihr. Oh ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ihre zarten Hände mich berührten und ich wusste: sie schätzte mich. Ja, sie schätzte mich, aber sie verstand mich nicht. Im Grunde tat sie nichts anderes als all die Kinder, die ein Instrument, wenn sie es das erste Mal in die Hand bekommen, malträtieren, unsachgemäß berühren, wo der Druck nicht stimmt, die Position, alles ist irgendwie falsch und fühlt sich nicht gut an. Wir waren nicht wirklich eins miteinander. Aber sie liebte mich. Sie war überzeugt davon, dass sie zu mir gehörte und ich zu ihr. Und das tröstete mich ein wenig über den Umstand hinweg, dass sie nicht wirklich fachkundig mit mir umging. Sei?s drum. Ich wurde gepflegt, wurde zum Fachmann gebracht, wenn sich etwas verzogen hatte, eigentlich war ich am Ort meiner Bestimmung angekommen. Und ich war ja nie ein so großartiges Geschöpf, dass ich für die Hände eines begnadeten Virtuosen in diese Welt gebracht worden war. Ich war eben ein Instrument für Leute, die das Geige Spielen lernen wollen, sich mit der Geige hin und wieder zurückziehen und in der Musik etwas Trost finden.
Fatalerweise sah sie sich an einer anderen Stelle. Sie hielt sich für jemanden, der gehört werden muss, von vielen Menschen, in der Öffentlichkeit. Sie tat das gemeinsam mit anderen und viele Jahre musizierten wir in Gemeinschaft mit einem Tasteninstrument, perkussiven Elementen, Gitarre und Flöte und wir machten schöne Musik miteinander. Sie hätte mir weitaus präzisere Töne entlocken können, aber es ging. Es ließ sich hören. Und so gingen die Jahre ins Land mit ihr und mir und den anderen und den Fachleuten, die mich hin und wieder zurecht ruckelten und es hätte eigentlich so bleiben können. Doch dann?

Warum hatte er auch immer nur geschwiegen? Warum hatte er nie irgendetwas gesagt? Von morgens bis abends plapperte sie: Sinnloses, Belangloses, hin und wieder Notwendiges, aber sehr sehr vieles, was die Stille einfach nur zerschnitt, in Momenten, in denen das Schweigen die Musik des Alltags hätte klingen lassen, in all ihrer Schönheit: das Vogelgezwitscher, der sanfte Wind, das Ticken einer Uhr, das Gurgeln des Heizkörpers, aber sie ertrug die Stille nicht. Sie musste sie immer und immer wieder durchbrechen mit Nichtigkeiten, Belanglosigkeiten, Ärgernissen, Zweifeln, langweiligen Geschichten, Nachfragen, Arbeitsaufträgen, kruden Überlegungen, die Liste ist endlos. Und er? Er schwieg dazu. Und wenn, dann gab er einsilbige Sätze von sich wie "Ja, stimmt.", "Vielleicht.", "Kann man machen.", aber er hatte eigentlich keine Meinung, keine Position und er setzte ihr nie etwas entgegen. Das war das, was sie an ihm offensichtlich liebte, dass er wie ich, das Instrument, etwas war, das sie in die Hand nahm und durch blinden Aktionismus zum Klingen brachte. Mal waren es sanfte Schwingungen, manchmal auch schrille Misstöne, so war sie eben, brachte ihn auch schon einmal auf die Palme, aber er ließ nicht sehr viel davon heraus oder auch nicht sehr viel an sich heran, dachte ich zumindest.

Dann kam der Tag. Irgendwie hörte sie überhaupt nicht mehr auf. Sie plapperte und plapperte und sie ignorierte, dass er gar nicht darauf reagierte, nicht darauf einging, sich nicht dazu äußerte, sich nicht dazu verhielt. Sie plapperte und plapperte und er öffnete sanft und leise meinen Koffer, nahm mich aus dem Koffer heraus, betrachtete mich. Hart umschloss seine rechte Hand meinen zarten Hals und für einen Augenblick hatte ich die schlimme Vision, dass er mich benutzen würde als einen Gegenstand der Zerstörung, wie einen Hammer, um damit über den Schädel seiner Frau zu fahren. Doch zum Glück tat er das nicht. Stattdessen löste er den Wirbel der G-Saite, langsam wickelte er sie ab, zog den Feinstimmer aus dem Saitenhalter und ließ mich mit drei Saiten zurück. Ich wusste nicht, was das sollte. Und jeder, der ein bisschen Ahnung von Geigen hat, weiß, dass man nicht einfach so eine Saite aufziehen kann, damit muss man zu einem Geigenbauer, das ist aufwändig und teuer. Und vor allen Dingen ist es vollkommen sinnlos, eine Saite einfach abzunehmen, wenn sie unbeschädigt ist und nach wie vor gut klingt. Und das tat sie. Er nahm also dies Saite und wickelte sie um die rechte Hand und das andere Ende um die linke Hand. Und zwischen seinen Händen spannte er sie wie eine Bogensehne. Dann trat er sachte, sehr leise von hinten an seine Frau heran, die sich gerade plappernd über den Herd beugte und im Topf mit allerlei Gemüse herumrührte, das unter Knistern und Brutzeln in gutem Pflanzenöl vor sich hin briet.
Er legte die Saite von hinten um ihren Hals und zog zu. Sie hörte augenblicklich auf zu plappern und er hätte ja jetzt einfach wieder loslassen können, aber wenn er das getan hätte, hätte sie natürlich umgehend weiter geplappert und das wollte er verhindern. Und er zog und zog, sie zuckte und versuchte, um sich zu schlagen, doch je länger er zog, umso mehr verlor sie die Kraft, bekam zu wenig Luft in ihre Lungen und zu wenig Blut in ihren Kopf und das, was drin war, konnte nicht zurück. Der Austausch von venösem und arteriellen Blut fand nicht mehr statt, das Gehirn wurde nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und nach wenigen Minuten sackte sie leblos zusammen. Und er stand da und hielt meine G-Saite in den Händen, unschlüssig, stumm, so wie ich ihn kannte. Und dann sagte er nur ein einziges Wort: "So."
Er rollte die Saite zusammen, stopfte sie in einen leeren Joghurt-Becher und versenkte den im gelben Sack, wohl in der Hoffnung, dass er dort niemals gefunden würde oder dass die Saite dort niemals gefunden würde, vermute ich. Vielleicht dachte er auch nicht nach. Er schloss den Geigenkasten und stellte mich in meinem Sarg hinter ein Regal. Dann nahm er einen Schlüssel vom Brett und verließ die Wohnung.
Wie lange das zurückliegt? Ich weiß es nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren.

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Freitag, 14. Oktober 2022
Optionales Verbrechen, das wahrscheinlich nicht stattfindet
Wenn jetzt einer käme, an meine Tür hämmerte, jemand mit ganz viel Wut im Bauch und ganz wenig Essen, jemand der gerade aus Nordafrika übers Mittelmeer geschippert ist und das gerade so überlebt hat, sich irgendwie durch die Appenin-Halbinsel und über die Alpen gemogelt hat und glaubte, endlich angekommen zu sein, an einem Ort der vorübergehenden Erlösung und dann feststellen musste, dass man ihn bespuckt, mit Abschiebung bedroht und sich einen Dreck um ihn schert und wenn der dann einfach exemplarisch eine von diesen satten, zufriedenen, mitteleuropäischen Maden ausweiden will, weil er sonst platzt vor Wut und der käme dann zu mir und würde es an mir auslassen, könnte ich es ihm verdenken?

Loslos, schreib einfach drauflos. Was kommt dabei raus? Ein Haus, eine Maus? Oder ein Klaus? Klau's und bring's, das war ja mal was, ein Riesenspaß, beim Piraten-Geländespiel nannten wir einen Posten so. Und da gab es Kinder, die sprachen die Leute im Dorf an: "Wissen Sie, wo der Laden Klau's und bring's ist?"
"Nein, noch nie gehört. Was für ein Laden soll das denn sein?"
"Na, ein Hehler."
Die dummen Kinder von damals, die heute schon wieder Eltern sind. Wo führt das alles hin? Eine Gesellschaft von Volldeppen? Hohlbirnen, die sich stetig reproduzieren, während die Genies keine Nachkommen haben? Oder welche, die dann ihrerseits keine Fortpflanzung mehr zustande bringen, weil sie drohen, an der Welt zu zerbrechen und dann nichts mehr wagen. Was für eine Schlonze. Da haben wir uns einen Smoothie eingebrockt, den echt keiner ausschlürfen will, darum kippen wir ihn denen über den Kopf, die sich am wenigsten wehren können, behaupten womöglich, wir täten ihnen Gutes, seien ja schließlich Nährstoffe und wir wissen schließlich alle, wie es sich mit geschenkten Gäulen verhält.

Nee, wirklich, könnte man es einem verdenken, wenn er es an uns auslässt?

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Freitag, 7. Oktober 2022
Schulterzuckende Gottheiten
"Sag mal", überlegt Gaia, "was ist bei dem Wolodja, der da auf dem größten Stück Boden sein Unwesen treibt, eigentlich schief gelaufen? Der ist doch im Sternkreiszeichen der Waage geboren. Müsste der nicht lieblich, hübsch, gelassen, ausgleichend, besonnen und um Frieden bemüht sein?"
"Mars war auf Sauftour.", antwortet Uranus lakonisch. "Hat den Vater von der Mutter geschubst und es zu Ende gebracht. Da sind die Sterne dann auch machtlos."
"Ja dann.", seufzt Gaia.

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Freitag, 30. September 2022
Die Fähe, die sich weise wähnte
Silvie war Künstlerin. Sie besaß diese besondere Gabe und hatte es auch schon immer gewusst. Und wie die meisten großen Maler, die erst posthum zu Ruhm gelangten, und wie die meisten großen Malerinnen, die auch posthum verdrängt und totschwiegen wurden, hatte auch sie das Nachsehen, wenn es um Wertschätzung, Anerkennung, ja überhaupt um Wahrnehmung ging.

Sie ging schon länger mit der Idee eines Künstlerinnen-Kollektivs schwanger, als Ludger beim regionalen Pfarrkonvent von einem Kunstprojekt in seiner Gemeinde berichtete. Er kooperierte mit einer freien, kreativen Gruppe, die bislang eher Ausstellungen und Performances unter anderem in Kirchenräumen veranstalteten und sich nun ein zweites Standbein mit Kursen und längerfristigen Gruppen aufbauten. In der Landeskirche hatte Ludger Mittel aus einem entsprechenden Topf beantragt, die nun bewilligt worden waren.
Silvie hörte nur halbherzig zu. Die Kunst der dilettierenden Freizeit- und Hobby-Maler interessierte sie nicht.
"Wer macht denn da mit?", fragte Martina interessiert.
"Uta, die Frau von unserem Küster, Marina, die auch bei unserem Begegnungs-Gottesdienst mitwirkt, Jens, der zweite Vorsitzende unseres Presbyteriums und Peter Lehmann, unser neuer Kita-Leiter. Die wollen jetzt zu jeder Kirchenjahreszeit ein bestimmtes Thema wählen und sich dann in verschiedenen Formen dazu ausprobieren und schließlich gemeinsam ausstellen. Einmal wöchentlich treffen sich alle zum Werkstatt-Termin, besprechen, planen oder machen etwas. Diese Künstler-Gruppe ist ganz famos, kein bisschen blasiert, sehr offen und lebenslustig."

Silvie spitzte die Ohren. Peter hatte sie seit einem Jahr nicht gesehen, was sie von Herzen bedauerte. Er war immer die Attraktion der Gemeinde gewesen, ein Mann als Erzieher in der Kita, der nicht nur einen tollen Draht zu Kindern hatte, vor Ideen übersprudelte und mit abgeschlossenem Hochstuhlstudium und einer Erstkarriere als Tischler alle mit seinen vielseitigen Kompetenzen beeindruckte; er war auch ein absoluter Womanizer, bildschön, charmant, eloquent, einfühlsam und trotz aller Offenheit und Freundlichkeit immer vorsichtig und zurückhaltend, niemals abwertend oder verletzend. Dann war die Leitungsposition in einer anderen Kita frei geworden und er hatte sich verabschiedet.

Vergeblich hatte Silvie sich der Hoffnung hingegeben, dass sich gelegentliche Begegnungen ergäben, Zusammenarbeit unter den Kitas, regionale oder kreiskirchliche Konferenzen, er war aus ihrem Leben verschwunden und es gab keine Möglichkeit, die Verbindung wieder herzustellen, ohne die eigene Würde aufs Spiel zu setzen. Doch nun eröffneten sich neue Gestaltungsräume und sie würde sie nutzen, dazu war sie augenblicklich wild entschlossen.

"Ach das klingt ja wirklich interessant.", wandte sie sich betont freundlich an Ludger. "Du sagst, die treffen sich einmal in der Woche? Haben die einen festen Termin?"
"Ja, immer Freitags abends ab 18.00 Uhr. Dann bringen ein oder zwei Leute einen Imbiss mit und sie legen los. Zwei Mal haben sie sich schon getroffen."
"Dürfen Gemeindeexterne auch noch einsteigen?"
"Auf jeden Fall!", erwiderte Ludger begeistert. "Je größer die Gruppe wird, desto spannender der Prozess und das Ergebnis."
"Ich denke, ich schau mal vorbei, vielleicht ist das ja auch etwas für mich.", sagte Silvie betont beiläufig und unschuldig. Dabei ignorierte sie Martinas süffisantes Lächeln. Sollte sie doch überlegen grinsen, am Ende würde Silvie triumphieren, jetzt hatte sie die Gelegenheit, zu zeigen, was in ihr steckte und Peter würde sie nicht länger übersehen.

Das Wiedersehen war wie ein Paukenschlag, die Gefühle überrollten sie wie die Wellen des Ozeans, doch sie hatte vor langer Zeit gelernt, sich zu beherrschen, immer die Kontrolle zu behalten und nicht aus der Rolle zu fallen. Sie war in ihrem Element, lauter Kunst schaffende, freie Geister wie sie, viele Anregungen und ein Ziel vor Augen. Die Herangehensweise erschien ihr in Teilen dilettantisch, aber das würde sich finden, sie würde sich ja ebenfalls einbringen. "Endlich mal wieder etwas, worauf ich mich jede Woche freuen kann.", dachte sie.

Sie ging mit Esprit an die Sache, sprudelte über vor Ideen, sog Peters Anregungen auf, entdeckte blitzschnell die Stellschrauben, an denen es zu drehen galt, sollte das Projekt gelingen. Leider waren die anderen Mitwirkenden künstlerisch kaum vorgebildet und die
vermeintlichen Fachkräfte erschienen ihr unprofessionell und irgendwie blutleer. Sie wollten die Gruppe animieren, ihre Ausdrucksformen zu übernehmen, statt die Einzelnen anzuregen, ihren jeweils eigenen Stil zu finden und dann Regie zu führen bei einem perfekten Zusammenwachsen. Sie hätte das Projekt gern zusammen mit Peter umgekrempelt, vom Kopf auf die Füße gestellt, aber Peter fehlte beim nächsten Mal, auch darauf und ebenso eine Woche später. Silvie wurde von Woche zu Woche unzufriedener und vielleicht war es Peter ja ebenso ergangen und er blieb deshalb der Gruppe fern.

Beim nächsten Pfarrkonvent wandte sie sich an Ludger, der diese neue Form der Gemeindearbeit initiiert hatte.
"Weißt du", sagte sie, "ich glaube das könnte ein richtig gutes Projekt werden, wenn wir mehr wirklich kreative Teilnehmende dabei hätten, Leute mit Phantasie und dem handwerklichen Geschick, ihre Ideen umzusetzen. Aber die Gruppe ist etwas seelenlos und diese Künstler , die du da eingestellt hast, ich glaube, die wollen sich da einfach nur selbst verwirklichen, sehen sich als Dirigenten und die Teilnehmenden als ihr Orchester. Ich denke, ich werde aussteigen und vielleicht in meiner Gemeinde eine eigene Gruppe aufbauen."
"Da habe ich von Peter Lehmann aber ganz andere Rückmeldungen bekommen. Der ist restlos begeistert, außer davon, dass die Gruppe so altershomogen ist, aber sonst."
"Peter kommt doch überhaupt nicht mehr."
"Der hat gerade sehr viel um die Ohren, sowohl in der Kita, als auch privat, da steht die Silberhochzeit an und um seine Tochter muss er sich auch gerade besonders kümmern. Ich schätze, wenn es für ihn in ruhigeres Fahrwasser geht, wird er wieder regelmäßig teilnehmen."
"Na ja, ich muss mich ja nicht komplett verabschieden, ich kann dann ja mal nachfragen, woran die Gruppe gerade arbeitet, und wenn es mich interessiert, komme ich für eine Weile dazu, da kann ich dann vielleicht auch einen Inspirations-Transfer zwischen den Gemeinden leisten."
"Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit.", erwiderte Ludger diplomatisch.

In Silvie kochte es wie in einem Vulkan. Ärger, Wut, Verzweiflung, Argwohn, Enttäuschung, Schmerz, Demütigung oder Kränkung - sie wusste selbst nicht mehr, welches Gefühl in diesem Potpourri den größten Anteil hatte. Aber eines war ihr vollkommen klar: Irgendjemand hatte Schuld an dieser Situation.
Mit Logik ließ sich die Materie nicht durchdringen, da war sie schon auf ihr Bauchgefühl angewiesen.
Sie konnte nachts nicht schlafen, grübelte, beschwor innere Bilder herauf und durchforstete ihre Erinnerungen nach Hinweisen. Als das erste fahle Grau das undurchdringliche Schwarz der Nacht ablöste, stand die Lösung da wie ein Findling: Schwer, massiv, unerschütterlich und nicht zu übersehen. Kathrin vom Kunsthaus, dieses vermeintlich scheue Reh mit den manipulativen Taschenspielertricks. Sie war es, die alle ausbremste, die beredt schwieg und in subtil abwertender Weise den Blick schweifen ließ oder angestrengt ein unsichtbares Ziel fixierte, sobald Silvie etwas beizutragen hatte und sei es auch nur ein winziger, beiläufiger Scherz. Kein Wunder, dass Ludger so etwas nicht merkte, ihn hatte sie sicherlich von Anfang an um den Finger gewickelt, während Peter sie sicher umgehend durchschaut und das Weite gesucht hatte.

Natürlich hätte Silvie die Gruppe ebenfalls verlassen können, aber die Erfahrungen der Vergangenheit lehrten sie, dass darin ein unkalkulierbares Risiko bestand. Vermutlich würde die Gruppe irgendwie weiter laufen und dann, wenn sie es am wenigsten erwartete, würde Peter zurückkehren und das Projekt würde grandiose Erfolge einfahren - ohne Silvie. Dieses Mal würde sie sich nicht hinaus stoßen lassen, dieses Mal würde sie sich wehren und handeln. Sie würde Kathrin zur Rede stellen.

Am kommenden Freitag war es so weit. Kathrin schlug vor, eine neue Methode der Inspiration auszuprobieren. Dazu sollte jeder zunächst in einem deutlich begrenzten Zeitfenster ein besonders kitschiges Bild malen, um dann mit verschiedenen Techniken dieses Bild immer weiter zu verfremden, in Farbe, Form, Ausrichtung oder Material. Alle wollten direkt begeistert ans Werk gehen, alle, bis auf Silvie.
"Hätten wir nicht viel mehr Zeit für das Spannende an dieser Aufgabe, wenn wir direkt irgendein berühmtes Gemälde verwenden, statt die Vorlage erst selbst herzustellen?"
"Sicher." entgegnete Kathrin geduldig, aber mit sehr müdem Blick. "Das Problem besteht nur darin, dass wir dann ausschließlich das kopieren, was längst da und bekannt ist und nicht aus unserem eigenen Geist schöpfen. Es geht darum, die inneren Schätze zu heben, das herauf zu holen, was schon lange darauf wartet, sich zu zeigen, nur bisher nicht weiß wie. Lass dich doch einfach mal drauf ein."
"Du könntest dich aber auch genauso gut einfach auf meinen Vorschlag einlassen, meinst du nicht?", fragte Silvie provokativ.
"Darum geht es hier nicht.", erklärte Kathrin stoisch. "Wenn die gesamte Gruppe sagt, oh, Kathrin, auf das, was du da vorgeschlagen hast, haben wir überhaupt keine Lust, lass uns lieber Mirò, Picasso, Monet, Rembrandt oder Michelangelo verfremden, dann könnte ich sagen, okay, dann macht ihr eben das, aber dann kann ich euch nicht an das heran führen, wofür ich eigentlich bezahlt werde."
"Und was wäre das?", fragte Silvie spitz.
"Die Entdeckung der inneren Bilder und Sehnsüchte. Da sind ganz andere Energien im Spiel, als wenn man sich auf Bekanntes bezieht. Die Ergebnisse sind individueller, persönlicher, stimmiger. Aber du kannst es ja ausprobieren und dann könnt ihr euch hinterher darüber austauschen."
"Oh, vielen Dank, dass du mir die Entscheidung darüber überlässt, was ich gern malen will."
?Bitte, keine Ursache.?
"Hast du denn Vorlagen zur Verfügung?"
"Nein, darauf war ich natürlich nicht eingerichtet. Aber du kannst ja etwas in die Suchmaschine eingeben."
"Können wir hier drucken?"
"Das weiß ich nicht. Weiß das jemand?"
"Theoretisch schon.", antwortete Jens, ?nur habe ich heute Abend keinen Schlüssel fürs Büro mit.?
"Soll ich einen holen??, fragte Uta. ?Wir wohnen ja direkt nebenan."
"Vielleicht solltet ihr euch auf euer Projekt konzentrieren und Silvie selbst eine Lösung finden lassen. Du kannst ja auch vom Bildschirm abmalen. Es geht ja nicht um eine Kopie sondern um eine Verfremdung."
"Da bleibt mir wohl nichts Anderes übrig." schnaubte Silvie.

Sie war außer sich. Kathrin behandelte sie wie eine renitente Göre und Peter fehlte schon wieder. Den hätte sie sicher nicht so respektlos behandelt. Bei nächster Gelegenheit würde sie sich bei Ludger über Kathrin beschweren. Die sollte sich nicht einbilden, dass sie so ungestraft mit Silvie umgehen konnte.

Drei Tage später hatte sie seit langem einmal wieder Zeit für ein paar Einkäufe in der Innenstadt. Als sie die Haupteinkaufsstraße entlang schlenderte entdeckte sie in einem Café an den Außentischen das gut geschnittene Gesicht von Peter Lehmann. Ein bezauberndes Lächeln lag auf seinen Lippen und er saß dort mit Ralf vom Kunsthaus. Sie wollte gerade ihrem ersten Impuls folgen und sich mit einem fröhlichen Hallo den beiden Männern entgegenstürzen, doch eine Frau, die es offenbar eilig hatte, kreuzte ihre Bahn und stieß mit ihr zusammen. Ärgerlich rammte Silvie ihr einen Ellbogen in die Seite. "Können Sie nicht aufpassen, wo sie hinlaufen?", zischte sie. Zuerst wurde sie von der Passantin ausgebremst, danach von den Tatsachen, als Peters Gesicht sich plötzlich dem von Ralf näherte und beide Männer in einem innigen Kuss verschmolzen.

Silvie war fassungslos. Bei Peter stand doch in Kürze die Silberhochzeit an und jetzt das? Doch wenn er ohnehin bereit war, auszubrechen, warum dann nicht mit Silvie, die ihm so unendlich viel mehr zu bieten hatte: sanfte Weiblichkeit, spiritueller Halt, Seelenverwandtschaft. Das wäre alles zum Greifen nah, hätte dieser Künstler nicht dazwischen gefunkt, dieser gemeine Verführer.

Sie hielt sich bedeckt, beobachtete schmerzvoll das Geturtel der beiden Männer, bis sie sich schließlich verabschiedeten und in zwei verschiedene Richtungen verschwanden. Intuitiv folgte sie Ralf, ohne eigentlich zu wissen, warum sie das tat. Er ging zügig in Richtung U-Bahn-Station, hinunter in den Schacht und sie folgte ihm. Als seine Bahn einfuhr und er dem nahenden Zug ungeduldig entgegenhastete, hatte sie sich ihm längst so weit von hinten genähert, dass sie ihm im passenden Moment nur einen kräftigen Schubs geben musste, so dass er auf den Schienen landete. Als die Bremsen quietschten, war sie längst auf der Treppe nach oben und ihre unauffällige Erscheinung schützte sie vor Wiedererkennung. Sie hatte eine FFP2-Maske und eine große Sonnenbrille getragen, falls es also Videoaufzeichnungen gab, waren die kaum verwertbar.

Am kommenden Freitag fiel die Kunstgruppe aus und am darauffolgenden Dienstag wurde Ralf bestattet. Natürlich ging Silvie zur Beerdigung, alles andere hätte verdächtig gewirkt. Sie simulierte Betroffenheit - das konnte sie sehr gut - und hielt Ausschau nach Peter. Der war vollkommen aufgelöst, stand am Grab seiner gerade erst entfachten Liebe und sah aus wie die Asche seines eigenen Feuers. Neben ihm stand Kathrin und stellte eine geradezu unanständige Nähe zu Peter her. Mit tröstlicher Nächstenliebe hatte das nichts mehr zu tun. Hatte es da eine Menage à trois gegeben? Würde Peter am Ende mit dieser Frau durchbrennen, ausgerechnet mit Kathrin, die sie dadurch doppelt demütigen würde?

Eine solche Entwicklung konnte Silvie keinesfalls dulden. Nach dem Leichenschmaus heftete sie sich heimlich an Kathrins Fersen ohne eine Gelegenheit zu finden, deren Leben zu beenden, ohne Spuren zu hinterlassen. Am Ende zog Kathrin sich in die Datsche einer Schrebergarten-Kolonie zurück und nachdem Silvie sie eine Weile beobachtet hatte, wurde offensichtlich, dass die Künstlerin hier übernachten würde. Sie machte sich drinnen am Gasherd Teewasser warm und schon war der Gedanke geschlüpft.
In der Nacht brannte die Hütte lichterloh und Kathrin lag am Boden und erstickte, bevor ihre sterblich Hülle zu Asche verbrannte. Und Silvie entfernte die Stöckchen, mit denen sie Tür und Fenster blockiert hatte, bevor die Feuerwehr zum Löschen anrückte.
"Auch eine Art der Verfremdung.", bemerkte Silvie in einem letzten Nachtritt, dann ging sie nach Hause, denn morgen stand ihr ein langer Tag bevor, mit Beerdigung, Kita-Gottesdienst, Predigtvorbereitung, Traugespräch und Presbyteriumssitzung.

Noch vor der Trauerfeier für Kathrin suchte sie Peter zu Hause auf. Bei zu viel geduldigem Abwarten käme ihr nur die nächste räudige Hündin in die Quere ? oder der nächste räudige Hund.
Als er die Tür öffnete, blickte er ziemlich überrascht. "Hallo Peter.", sagte sie mit weit geöffneten Augen ihrer tiefen Betroffenheit Ausdruck verleihend. "Ich musste einfach mit jemandem reden, der genauso betroffen von diesen mysteriösen Toden ist wie ich."
"Da bist du bei mir wohl an der falschen Adresse.", antwortete Peter brüsk. "Du bist nicht ansatzweise so betroffen wie ich."
"Wie kannst du das sagen?", hauchte Silvie und blickte ihn an wie ein weidwundes Reh. Sie schaffte es sogar, ein paar glitzernde Tränen in ihre Augen zu sammeln.
Ihr Blick fiel über Peters Schulter auf dessen Ehefrau, die die Szene scheinbar neutral beobachtete, der es aber nicht gelang, das triumphale Lächeln ganz von ihren schmalen Lippen zu verbannen.
"Er ist immer noch mein Mann.", schien ihr Blick zu sagen. "Und du siehst ja was mit denen passiert, die ihn mir ausspannen wollen. Davon abgesehen, hast du sowieso keine Chance, Mäuschen."
"Dir werde ich was.", dachte Silvie. "Diese letzte Hürde nehme ich auch noch."

"Na, komm meinetwegen rein.", sagte Peter resigniert.
"Vielleicht ein andermal.", erwiderte Silvie und machte auf dem Absatz kehrt. Sie musste ihn ein wenig zappeln lassen, wenn sie interessant für ihn sein wollte.

Peters Frau war begeisterte Schwimmerin und es hatte sich längst herumgesprochen, dass sie regelmäßig nach Feierabend ihre Bahnen im nahe gelegenen Badesee zog, auch an kühlen und regnerischen Tagen.
Silvie war auch keine schlechte Schwimmerin, sie besaß einen Rettungsschein und konnte ganz gut tauchen. Der See war wie ausgestorben, Peters Gattin musste glauben, sie habe ihn für sich allein. Aber da war sie genauso im Irrtum wie bei ihrem Ehemann. Lautlos glitt Silvie ins Wasser, näherte sich ihrem Opfer und ging kurz bevor sie sie erreichte auf Tauchgang. Sie schwamm unter ihrer Konkurrentin her, bekam deren Fuß zu fassen und zog sie plötzlich und beherzt in die Tiefe. Im ersten Moment schien alles gut zu klappen, aber Silvie hatte nicht mit dem Kampfgeist dieser Schwimmerin gerechnet. Die bekam wieder Oberwasser und drückte Silvie in die Tiefe und das mit solcher Wucht und Wut, dass Silvie keine Chance hatte. Sie starb den Tod, den sie eigentlich ihrem Opfer zugedacht hatte.

Doch als hätte sie es geplant, ging sie irgendwie als Siegerin aus diesem Ereignis hervor. Peters Frau kam vor Gericht und wurde in Silvies Fall wenigstens des Totschlags bezichtigt. Krankhafte Eifersucht bescheinigte ihr der Staatsanwalt und brachte genug Indizien zusammen, um sie auch der Morde an Ralf und Kathrin schuldig zu sprechen. Peter war nun frei und konnte endlich ausbrechen in das Leben, das ihm so lange verwehrt geblieben war.
Silvie, die vermeintlich weise Fähe, verweste derweil im kühlen Grab.

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