Freitag, 4. September 2020
Schuld
Vor der Steinstraße 26 machte sie halt. Acht Jahre wohnte sie nun schon hier. Gute Gegend und trotzdem keine hohe Miete. Da hatte sie Glück gehabt. Das Leben meinte es oft gut mit ihr. Nicht immer, auf vieles musste sie verzichten, aber sie konnte wenigstens jeden Morgen ohne schlechtes Gewissen in den Spiegel sehen. Der Spiegel war ihr Freund. Sonst war auch niemand da, jedenfalls nicht in der Steinstraße 26. Wenn sie sich verliebte, war der Mann immer schon vergeben. Kein Wunder, sie war schon über dreißig und wollte sich nicht mit B-Ware zufrieden geben. Dann lieber ganz verzichten. Wie auf so vieles. Fleisch aß sie schon seit Jahren nicht mehr. Wie konnte sie sonst einem Tier ins Auge sehen, wenn sie vielleicht wenige Tage vorher, einen Teil seiner Artgenossen verspeist hatte?

Brot und Nuss-Paprika-Aufstrich reichten noch fürs Frühstück, da konnte sie auch morgen wieder einkaufen gehen. Nur das Nötigste. Sie war ja schon wieder pleite.
Sie wollte Schlafen gehen und von Bertil träumen. Träumen war ja erlaubt. Aber da war diese innere Unruhe.

Raoul. Sieben Jahre. Und es ist ja nichts passiert. Nur etwas vorgefallen. Ein Vorfall. Etwas, das nach vorne geht. Nicht regulär. Außerhalb des grünen Bereichs. Distanzlosigkeiten. Grenzüberschreitungen. Keine Straftaten. Immer hart an der Grenze. Oder auch knapp drüber. Konsequenzen? Vielleicht. Ein Vieraugengespräch? Ganz bestimmt. Doch was gab es da zu sagen?
Ein „Ich habe ein Auge auf dich“?
Ein „Pass auf, dass es dich nicht kalt erwischt“?
Ein „Eigentlich hätten wir uns längst von dir trennen müssen“?
Ein „Versprich mir, dass du dir Hilfe holst“?

Es ist ja nichts passiert. Hoffentlich. Und wer kann schon von sich sagen, er hätte sich immer korrekt verhalten, untadelig und ohne Fehl?
Und doch war da immer was Komisches. Haben die Schutzmechanismen nicht ausgereicht. Ging ja doch zu weit, wenn auch nicht so sehr, aber trotzdem.

Reicht ein Schluss-Strich? Oder muss jetzt alles auf den Tisch? Muss jetzt jedes Fitzelchen aufgearbeitet werden, jeder Spruch, jede verrutschte Hand, jede überzogene Offenherzigkeit?
Wenn es doch wenigstens einfach wäre. Klar. Ja. Nein. Und nicht dieses nebulöse Vielleicht.
Ein minimales Restrisiko für die Zielgruppe eingehen oder ein ein Leben zerstören? Welche Schuld wiegt schwerer? Unschuldig kam sie aus dieser Sache jedenfalls nicht heraus.

Autotüren klapperten. Ein Streit, lautstark und rüde. Sie ging ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf. Sie brauchte Ruhe, Ruhe, Ruhe.

In der Steinstraße vor dem Haus mit der Nummer 26 tat eine Frau mittleren Alters ihren letzten Atemzug. Sie hatte Schluss gemacht mit ihrem Freund. Er hatte die Kontrolle verloren. Ihre Hilferufe blieben ungehört.

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Freitag, 28. August 2020
Wahlkampf
Brütende Hitze schon um neun Uhr morgens, das war irgendwie auch nicht richtig, nicht einmal im August. Paul holte die Zeitung ins Haus, wusste ja im Großen und Ganzen, was drin stand: die überregionalen Berichte waren am Vortag in den Fernsehnachrichten gelaufen, die Inhalte des Lokalteils, die ihn interessierten, kannte er bereits, saß ja seit Jahren im Stadtrat und war mit allen im Gespräch. Die Tagespresse diente mehr einem Frühstücksritual, als der Befriedigung seines Informationsbedürfnisses.

Heute erlebte er eine Überraschung. Dass so etwas überhaupt noch möglich war. Ein Leserbrief von Frank Schulte, diesem geckenhaften Theologen, der sich mit der Beharrlichkeit eines hungrigen Nagetiers in den Landtag zu mogeln versuchte, ausgerechnet für die sterbende Partei Deutschlands, ausgerechnet in einer konservativen Hochburg.
„Geschmückt mit fremden Federn“ lautete die Überschrift, „Radwege für für Robbelsdorf schreiben sich plötzlich alle auf die Fahne“
„Meine Güte“, stöhnte Paul. „Was hat er denn jetzt für ein Problem?“
Neugierig las er, was der unliebsame kommunalpolitische Weggefährte zu sagen hatte:
„Mit Befremden nehme ich in den letzten Tagen die großspurige Propaganda diverser politischer Parteien wahr, die sich als Retter der Ortsteile inszenieren und sich dabei in geradezu schamloser Weise mit fremden Federn schmücken. Es ist ja eine bekannte Strategie, dass konservative Bundesregierungen sich mit einer stabilen Wirtschaftslage brüsten, die sie lediglich den umsichtigen und nachhaltigen Maßnahmen der Vorgängerregierung verdanken. Dass nun aber schon auf kommunalpolitischer Ebene dem Bürger so offensichtlich und frech ins Gesicht gelogen wird, das ist schon ganz großes Kino!
Das vorbildliche Radwegnetz in Robbelsdorf, an dem die Bürgerinnen und Bürger sich seit nunmehr zwei Jahren erfreuen dürfen, geht auf das Konto meiner Initiative im Stadtrat. Gegen zahlreiche Widerstände habe ich es in langen Kämpfen durchgesetzt und nun brüstet sich die Partei der Untätigen, allen voran der für das Bürgermeisteramt kandidierende Herr Rabente mit dem Ergebnis. Aber so ist es ja immer: Die einen räumen das Haus auf und die anderen empfangen den Besuch und geben mit den behaglichen Räumlichkeiten an. Ein schäbiger Politikstil, in den all jene verfallen, die selbst nichts zu bieten haben.“
„So ein Idiot.“, dachte Paul. Das war doch wirklich jedem klar, dass Radwege zu den Schwerpunkten seiner Partei gehörten. Schulte hatte aus ureigenstem persönlichen Interesse – er war Freizeit-Radsportler – das Thema in den Rat eingebracht, das war richtig, aber alles andere hatten Paul und seine Weggefährten vorangetrieben, denn mit Arbeit, machte Frank Schulte sich nicht die Hände schmutzig. Schließlich war er ein Mann des Wortes.

Es klingelte an der Haustür. Für die Post war es eigentlich zu früh. Wer das wohl sein mochte?“ Paul schlurfte durch den Flur, um zu öffnen. Dort standen ein Mann mit übellaunigem verlebtem Gesicht und eine aparte junge Frau. Wie Zeugen Jehovas sahen die nicht aus. Der Mann stellte sich vor: „Guten Morgen, Herr Rabente. Mein Name ist Stefan Keller und das hier ist meine Kollegin Sabine Kerkenbrock. Wir sind von der Kriminalpolizei und ermitteln in einem Mordfall. Dürfen wir hereinkommen?“
„Können Sie sich ausweisen?“, fragte Paul skeptisch.
Beide zeigten ihm umgehend ihre Dienstausweise, die überzeugend echt wirkten. Mit Sicherheit konnte er das nicht sagen, er sah diese Karten zum ersten Mal. Sie wirkten beide nicht wie Trickbetrüger, also ließ er sie eintreten und bat sie ins Wohnzimmer. Alle drei setzten sich und Paul fragte: „Aber wer ist denn nun ermordet worden?“
„Pfarrer Frank Schulte, der Landratskandidat der SPD.“, antwortete der Kommissar.
„Das ist ja schrecklich!“
„Waren Sie befreundet?“
„Wir saßen zusammen im Stadtrat. Aber natürlich für unterschiedliche Parteien.“
„Sie kandidieren für den Bürgermeisterposten?“
„Ja, aber für die Grünen.“
„Haben Sie heute morgen schon die Tagespresse gelesen?“
„Ja, gerade eben. Fragen Sie wegen des Leserbriefs von Frank Schulte?“
„Ja, genau. Hatten Sie darüber im Vorfeld eine Auseinandersetzung?“
„Nein. Ich war vollkommen überrascht. Radwege sind ein originär grünes Thema, natürlich haben wir das Projekt von Anfang an im Rat mit vorangetrieben. Das ist platteste Wahlkampfpolemik, was der Herr Schulte da verfasst hat. Er will mit Gewalt in den Landtag, schon seit Jahren. Ich vermute, er hat das Pfarrerdasein satt und wäre lieber Berufspolitiker. An diesem Image hat er schon lange gearbeitet.“
„Ging er dabei sprichwörtlich über Leichen?“
„Nein, so krass würde ich das nicht formulieren. Rücksichtslos, ja. Selbstverliebt, geltungssüchtig, bisweilen verbissen und verzweifelt. Großspurig und ein bisschen größenwahnsinnig war er auch. Aber er hat keine Existenzen vernichtet. Wozu auch?“
„Nun, offensichtlich war er aber jemandem im Weg. Haben Sie eine Vorstellung, wer ihn loswerden wollte?“
„Nein. Da bin ich vollkommen ratlos.“

Frustriert verließen ihn die Beamten. Paul hatte ganz vergessen zu fragen, wie Schulte ums Leben gekommen war. Vermutlich hätten Sie auch nichts verraten, weil es sich dabei um Täterwissen handelte. Hätte er gewusst, dass man ihm seine eigenen, zerknüllten Wahlplakate in den Rachen gestopft hatte, bis er daran erstickt war, hätte er geahnt, wer der nächste war.

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Freitag, 21. August 2020
Sehnsuchtsort
Das Haus war sein stärkstes Argument. Ohne das Haus in Holland hätte sie ihn längst verlassen. Er hatte es geerbt von seinem niederländischen Großvater, ein jahrhundertealtes Fischerhaus: Gegenüber der Bäcker, bei dem man sich in Pantoffeln Brötchen holen konnte, nach hinten hinaus das winzige Gärtchen an der Gracht, nur drei Kilometer bis zum nächsten Strand, umgeben von einem Dorf wie auf einem Adventskalender und einer Landschaft wie in gefälligen Aquarellen gemalt.
Sie hätte das Haus gern für sich gehabt, ohne den anspruchsvollen Gatten und Lebensgefährten, der ständig nach Gesprächen und gemeinsamen Aktivitäten gierte.

Jetzt lag er oben im Bett und schnarchte. Sie war die steile Stiege hinuntergeschlichen, hatte sich einen Tee gekocht und genoss die Stille der Nacht, die nur alle fünfzehn Minuten vom Klang der Turmuhr durchbrochen oder vielmehr strukturiert wurde.
In ihrem Kopf wurde die Geschichte des Ortes lebendig. Mehrköpfige Familien hatten in dieser winzigen Hütte gelebt und gearbeitet: Nach vorn hinaus ein Laden, in der Mitte Alkoven zum Schlafen und nach hinten eine Küche und vielleicht ein Schuppen zum Ausbessern der Netze.

In den ersten Jahren hatte seine Risikobereitschaft an ihren Nerven gezerrt: Immer schwamm er zu weit hinaus, sogar bei Ebbe, sogar am Atlantik. Wenn er dann ewig nicht zurückkam, geriet sie in Panik, sie hätte ihn ja nicht retten können, war eine viel zu schlechte Schwimmerin. Auch hier an der Nordsee war mit der Strömung nicht zu spaßen, aber er schlug wie immer alle Warnungen in den Wind.
Irgendwann war ihr aufgefallen, dass ihre Panik nicht dem möglichen Verlust ihres Lebenspartners galt, sondern der Scheu vor Unannehmlichkeiten, schwierigen, organisatorischen Herausforderungen, verstörenden Verdächtigungen…
Sie stellte zum ersten Mal fest, dass sich die Sorge in Hoffnung gewandelt hatte, ja sogar in so etwas wie Euphorie. Wenn er nun wirklich nicht zurückkam? Wann musste sie den Rettungsdienst alarmieren? Wie lange konnte sie es glaubwürdig hinauszögern?

„Oh komm, du Geist der Wahrheit“, spielten die Carillons in einer Penetranz, die kein Zufall sein konnte. Auch wenn sich diese geistliche Musik einreihte in Bizets „Carmen“, das britisch-patriotische „Land Of Hope And Glory“ und den „Entertainer“ aus dem Hollywoodfilm „Der Clou“, so war es doch bezeichnend, dass gerade dieser Choral sich in ihren Kopf bohrte und nicht „Lobe den Herren, den mächtigen König“ oder „Geh aus mein Herz und suche Freud“.
Die Wahrheit erschien ihr grundsätzlich attraktiv, sie hatte an sich kein Bedürfnis, sie zu verdrängen, nur dieses unbequeme Detail, dass sie extra lange gewartet hatte, das wollte sie gern unterschlagen. „Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“, das war gegenwärtig nicht in ihrem Interesse, sie favorisierte Dunkelheit und Nebel und wollte gern den trügerischen Schein der trauernden Witwe aufrecht erhalten. Die indigenen Evangelikalen, die sie stets mit argwöhnischen Blicken musterten, hatten sie ohnehin im Visier. „Dat is ook niet een van ons.“, flüsterten sie unüberhörbar hinter überflüssigerweise vorgehaltener Hand. Zum Glück bildeten diese sauber geschrubbten und blütenweiß gestärkten Religionsfaschisten nicht die Mehrheit der örtlichen Bevölkerung. Aber ihr inquisitorischer Habitus vergiftete die Atmosphäre mit einem Anstrich von Hexenverfolgung und sie fühlte sich als Opfer. Ja sie war ein Opfer, keine Täterin, denn sie hatte nichts getan, gar nichts, absolut überhaupt gar nichts hatte sie getan.

Die Sonne brachte die Hortensienblüten, die korallenroten Ebereschenbeeren und die fast reifen Weintrauben im Gärtchen zum Leuchten. Die Enten planschten im Wasser, Tauben stritten gurrend um die Grenzen ihres Reviers und hässliche Silbermöwen konkurrierten um die Pole Positions auf den Schornsteinen. Der Himmel war so blau wie die Unendlichkeit und bunte Schmetterlinge umflatterten die bereits dahinwelkenden Blüten. Sie betrachtete den seidigen Schimmer ihrer sich in feinsten Fältchen kräuselnden Haut. Wie viel Zeit ihr wohl noch blieb, um die Intimität dieses einzigartigen Fleckchens regelmäßig zu genießen?


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Samstag, 15. August 2020
Strafprediger gerichtet
Hille. Im ostwestfälischen Rothenuffeln brachte ein offensichtlich verwirrter Mann den Verkehr an einer stark befahrenen Kreuzung zum Erliegen. Er stellte eine Kiste mitten auf den Knotenpunkt und lockte mit einer spontanen Kundgebung viele Schaulustige an.
„Reißt den Politikern die Masken runter!“, schrie er. „Sie können es leugnen, so lange sie wollen, aber die Seuche ist eine Strafe Gottes, ein Fallbeil des Himmels, ein reinigender Hagelsturm des Allmächtigen. Die Frevler werden seiner lodernden Feuersbrunst nicht entkommen, sie werden mit Stumpf und Stiel ausgerottet und wenn sie noch so viel Abstand halten, noch so teure Masken tragen, noch so eifrig nach Medikamenten forschen. Sie werden gerichtet werden! Wir aber, die wir zu den Gerechten zählen, wir werden gerettet werden.“
Der ungeduldige Lenker eines schweren Geländewagens näherte sich der Menschenansammlung und vertrieb die Schaulustigen mit einem wilden Hupkonzert. Dann raste er unbeirrt auf die Kreuzung zu. Sein Versuch, den Prediger dabei zu umfahren scheiterte, stattdessen erfasste er ihn mit voller Wucht und schleuderte ihn so mit dem Kopf an einen Kilometerstein. Der verwirrte Mann verstarb noch an der Unfallstelle.

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