Montag, 6. April 2020
Verzweifelte Suche - Ein Antikrimi mit Peter Margo in mehreren Teilen – Teil 2
Ich musste verdammt früh aufstehen, wenn ich um 7.00 Uhr am Haus der zu beobachtenden Personen in Stellung gehen wollte. Ich schaffte es gerade mal so, mit einem Becher Kaffee zum Mitnehmen stand ich schließlich in der Berliner Straße und hatte die Wohnung der Eheleute Benrath und Marowski im Visier. Rüdiger Benrath und Olivia Marowski, um genau zu sein, bewohnten gemeinsam eine großzügige Fünfzimmer-Wohnung im ersten Stock eines etwa einhundert Jahre alten Mehrfamilien-Bürgerhauses mit großflächigen Sprossenfenstern und hohen Stuckdecken. In der Küche war Licht, ich konnte durch das Fenster aber nur die Silhouette der Frau erkennen, soweit stimmten meine Beobachtungen mit der meiner Klientin überein.
Gegen 7.30 Uhr verließ Frau Marowski die Wohnung und stieg in einen dunkelblauen Jaguar. Ich startete meine alte Klapperkiste und folgte ihr unauffällig. Sie fuhr quer durch die Stadt, bis sie schließlich den Wagen auf einem reservierten Mitarbeiterparkplatz einer größeren Anwaltskanzlei abstellte. Ich parkte in der Nähe, ging erst einmal in Ruhe frühstücken und drückte mich danach den gesamten Vormittag vor dem Gebäude herum. Gegen 13.00 Uhr verließ Frau Marowski das Haus mit einem Mann und einer Frau, offensichtlich zum gemeinsamen Mittagessen. Ich wartete etwa fünf Minuten, dann betrat ich die Kanzlei. Der Laden befasste sich überwiegend mit Vertragsrecht, da würde mir schon etwas einfallen. Ein Vorzimmer-Herr begrüßte mich freundlich und fragte, ob ich einen Termin habe.
„Nein.“, erwiderte ich. „Aber ich weiß schon zu wem ich will. Ich hätte gern die Frau Marowski gesprochen.“
„Die ist gegenwärtig zu Tisch.“
„Dann vielleicht mit ihrer Vertretung? Wissen Sie, die Frau Marowski wurde mir persönlich empfohlen, aber wenn sie jemand vertritt, ist das vielleicht ebenso gut.“
„Worum geht es denn bei Ihnen?“
„Ach, das würde ich lieber gern selbst mit dem zuständigen Rechtsbeistand erörtern, es ist nämlich etwas heikel.“
„Aber wenn ich wüsste, in welche Richtung Ihr Anliegen geht, könnte ich Sie dem passenden Mitarbeiter zuweisen.“
„Nun, es müsste ja nur jemand mit dem gleichen Spezialgebiet sein, wie die Frau Marowski.“
„So einfach ist das aber nicht. Jeder hat hier nicht nur ein Spezialgebiet. Die Frau Marowski zum Beispiel ist zuständig für Das Aufsetzen von Eheverträgen, Entwicklung und Überarbeitung von AGBs und dem Widerspruch gegen betrügerische Vertragspartner, die zum Beispiel durch Täuschung Verträge zustande kommen lassen, in denen die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist.“
„Also um einen Betrugsfall geht es bei mir auch.“
„Dann schicke ich Sie mal zu der Frau Ostenholt. Die ist schon aus der Pause zurück.“
Kurz darauf betrat ich ein steriles Büro mit grauem Tretford-Teppichboden, Armstühlen aus Metall mit gepolsterten und strapazierfähigem Textil bezogenen Sitzen, Büromöbeln mit Kirschholzfurnierimitat und weißen Lamellen vor den Fenstern, wie sie in Arztpraxen verwendet wurden. Frau Ostenholt war normal groß, schlank, ein wenig konservativ frisiert, geschminkt und gekleidet. Sie bot mir an, mich zu setzen und fragte nach meinem Anliegen.“
„Wissen Sie“, begann ich, „es ist mir etwas peinlich. Ich bin da einer billigen Betrugsmasche auf den Leim gegangen. Man hat mir einen Eintrag ins Branchenbuch angeboten, ich habe das nicht weiter geprüft, dachte, ja klar, Branchenbuch, da muss man ja drin stehen, hab die erforderlichen Daten eingetragen und das Formular abgeschickt. Sechs Wochen später kam die Rechnung: 600,- € für das laufende Jahr, Vertragsbindung für mindestens zwei Jahre. Keine Möglichkeit mehr vom Vertrag zurückzutreten, weil ich ihn ja schon vor sechs Wochen abgeschlossen hatte. Mein Bekannter empfahl mir, das Problem mit Frau Marowski zu lösen, die hole mich da raus, allein könne ich das nicht schaffen.“
„Ja, da hat Ihr Bekannter wohl Recht. Für Laien ist das ein Problem, für uns dagegen ein lösbares Problem. Wieso hat Sie Ihr Bekannter so besonders auf Frau Marowski verwiesen?“
„Er kennt sie wohl persönlich. Was meinen Sie? Ist sie so kompetent wie mein Bekannter behauptet hat?“
„Davon gehe ich aus. Ich kann Ihnen aber genauso weiterhelfen. Wenn Sie allerdings unbedingt möchten, dass Frau Marowski sich im Weiteren der Sache annimmt, kann ich die Angelegenheit auch an sie übergeben. Sie können mir Ihr Anliegen trotzdem vortragen.“
„Wie gut kennen Sie Ihre Kollegin?“
„Ich weiß, wie sie arbeitet.“
„Und wie ist sie sonst so?“
„Was tut das zur Sache?“
„Ich weiß gern mehr über einen Menschen, dem ich persönliche Angelegenheiten anvertraue. Ich muss ein gutes Gefühl bei einer Person haben. Seriös sollte sie sein, auch in privater Hinsicht. Ist sie verheiratet?“
„Allerdings.“
„Und was macht ihr Mann beruflich?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Reden sie als Kolleginnen denn nicht miteinander?“
„Doch, schon, aber eben über berufliche Dinge.“
„Nie über Privates?“
„Gelegentlich. Frau Marowski ist da allerdings eher zurückhaltend. Da werden Sie auch bei den anderen Kolleginnen und Kollegen kein Glück haben, wenn sie etwas aus ihrem Privatleben erfahren wollen. Aber worum geht es Ihnen eigentlich? Um ihren Betrugsfall oder um meine Kollegin?“
„Natürlich um meinen Fall. Und vielleicht ist es besser, wenn ich Sie damit betraue. So kompliziert ist es auch gar nicht, nur ein bisschen peinlich, dass ich auf diese Betrüger hereingefallen bin.“
Ich holte in meinen Erzählungen noch etwas aus, hatte dann aber, oh Schreck, die Unterlagen vergessen und versprach, sie in den nächsten Tagen zu mailen oder persönlich vorbei zu bringen.

Frau Marowski trennte also Berufliches und Privates strikt voneinander. Niemand an ihrem Arbeitsplatz wusste etwas über ihren Mann. Auch dass er verschwunden war, schien hier niemandem aufgefallen zu sein. Ich entschloss mich, zunächst einmal herauszufinden, wo Rüdiger Benrath arbeitete und wählte den bequemsten Weg über die Bilder der Suchmaschine. Hier gab es so viele Fotos, die meisten ließen sich gleich eliminieren, insbesondere die von dem Schauspieler Martin Benrath, aber auch jene in Städten am anderen Ende der Republik. Schließlich hatte ich einen gefunden, der mir mehr als wahrscheinlich erschien. Ich schickte meiner Klientin einen Link zu dem Foto und fragte sie, ob das der Vermisste sei. Er war es. Ein Universitätsprofessor für Soziologie. Vermutlich war er verreist wegen eines Forschungsfreisemesters oder einer Gastprofessur im Ausland. Ich würde mich also morgen in die Heiligen Hallen der Wissenschaft begeben. Vorher fuhr ich vorsichtshalber noch einmal in der Berliner Straße vorbei und sah nach dem Rechten. Frau Marowski kam gerade mit einem Korb voller Lebensmittel nach Hause. Noch vor der Haustür zog sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und sprach mit jemandem. Dabei wirkte sie fröhlich und ausgelassen, fast wie ein frisch verliebter Teenager. Sogar auf die Entfernung hörte ich sie ein erwartungsfrohes „Bis gleich.“ in das Mikrophon rufen. Da würde ich wohl noch eine Weile auf meinem Posten bleiben müssen.

FORTSETZUNG FOLGT

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Samstag, 4. April 2020
Verzweifelte Suche - Ein Antikrimi mit Peter Margo in mehreren Teilen – Teil 1
Eigentlich ging der Sommer gerade zu Ende aber so vieles war in diesem Jahr komplett verrückt gelaufen, dass ich mich auch nicht über die Affenhitze wunderte, die sogar Ende September den Deckenventilator in meinem sonst so kühlen Büro unentbehrlich machte.Jetzt um die Mittagszeit war es hier drin am besten auszuhalten, erst wenn gegen Abend die Gluthitze langsam von der lauen Sommernacht abgelöst wurde, war es das Klügste, diesen möblierten Umluftherd zu verlassen.
Es klopfte und ich gab ein neutrales „Herein!“ von mir, vollkommen ahnungslos, ob da auf der anderen Seite der Tür ein Arbeitsauftrag, ein Schuldeneintreiber, ein War-gerade-zufällig-in-der-Gegend-Bekannter, ein Verrückter oder alles auf einmal wartete. Die Klinke wurde sanft herunter gedrückt, die Tür behutsam geöffnet und vor mir stand eine farblose, weibliche Person mittleren Alters. Graubraun gewandet und behaart, in derben Lederschuhen, Cordhosen und Wollwalkjacke, ungeschminkt, aber nicht ungepflegt, mit müden Augen und die schmalen Lippen umgebenden Kräuselfalten.
„Bin ich hier richtig?“, fragte sie mit brüchiger Stimme, ganz so, als sei sie es nicht mehr gewohnt, sie regelmäßig zum Einsatz zu bringen. „Privatdetektiv Peter Margo?“
„Ja, ganz recht, Lady“, antwortete ich, „was kann ich für Sie tun?“
„Ich hoffe, Sie halten mich nicht für verrückt. Bei der Polizei war ich schon, die sahen keine Notwenigkeit zu ermitteln und haben auch so reagiert, als wenn ich meine fünf Sinne nicht beisammen hätte.“
Sie sprach nicht weiter und sah mich erwartungsvoll an.
„Setzen Sie sich doch.“, forderte ich sie auf und fragte: „Welches Anliegen haben Sie denn?“
Sie nahm Platz, stellte die Füße ordentlich nebeneinander und bemühte sich ihre Schultern zu straffen. So ganz gelang ihr das nicht, ich schloss auf verkürzte Muskeln, Sehnen und Bänder, sie war nicht so der athletische Typ. Sie atmete tief durch, dann begann sie zu erzählen: „In der Wohnung schräg gegenüber wohnt seit zwei Jahren ein Paar, sie sind in den mittleren Jahren, vielleicht auch etwas drüber und haben sich einfach gut gehalten. Sie leben allein, bekommen kaum Besuch, in den letzten Monaten ohnehin nicht, da hatte ja niemand mehr Besuch, aber jetzt, wo es wieder los geht, eben auch nicht. Sie waren eigentlich kaum zu Hause, waren wohl beide beruflich sehr eingespannt, gesehen habe ich sie nur in der dunklen Jahreszeit, wenn abends Licht bei ihnen war und sie in der Küche hantierten oder im Wohnzimmer saßen. Während der Coronazeit waren sie wie so viele meistens in ihrer Wohnung, arbeiteten wohl von zu Hause aus. Und an manchen Tagen, wenn bei ihnen die Fenster geöffnet waren und bei mir auch, habe ich mitbekommen, wie sie sich gestritten haben, richtig lautstark, sonst hätte ich ja nichts gehört. Es passierte immer häufiger, in immer geringeren zeitlichen Abständen und in einer Heftigkeit, dass mir das Blut in den Adern gefror. Dann, Ende Juli, hörte es plötzlich auf. Zuerst war ich natürlich dankbar für die Ruhe, aber dann fragte ich mich, ob die zwei wohl weg gezogen waren. Ich bin spazieren gegangen, aber da standen noch immer die gleichen Namen auf den Klingelschildern und irgendwann sah ich die Frau, die abends nach Hause kam. Komischerweise sah ich den Mann aber nicht mehr, obwohl sein Name noch immer auf dem Klingelschild steht.“
„Es kann doch aber sein.“, bemerkte ich. „Dass der Mann ausgezogen ist und die Frau es bisher versäumt hat, das Schild zu ändern, weil sie zu viel um die Ohren hat oder weil sie heimlich hofft, dass er zu ihr zurückkehrt.“
„Ja“, antwortete meine Klientin. „Das dachte ich auch. Aber dann habe ich die Frau mal auf der Straße getroffen und bin einfach auf sie zugegangen. Da hab‘ ich sie gefragt, ob es ihnen gut gehe, und gesagt, dass man ihren Mann ja gar nicht mehr zu Gesicht bekäme und ob denn alles in Ordnung sei. Da hat sie erwidert, alles sei in bester Ordnung, ihr Mann sei nur sehr viel unterwegs, das sei so bei beruflich erfolgreichen Menschen. Und dann hat sie mich einfach stehen lassen.“
„Vielleicht ist es ihr auch einfach nur peinlich, dass er sie verlassen hat.“, bemerkte ich. „Sie will die Illusion der Bilderbuchehe nach außen hin aufrecht erhalten und spielt Ihnen die erfolgsverwöhnte Gattin vor. Und mal ganz im Ernst, das Leben dieser Leute geht Sie ja nun wirklich nicht das mindeste an. Warum sollte da ein Verbrechen vorliegen?“
„Nein.“, erwiderte die graue Maus, „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin nicht überzeugt davon, dass die Frau ihrem Mann etwas angetan hat. Vielleicht wurde er auch entführt und sie schaltet aus Angst vor schlimmeren Folgen die Polizei nicht ein. Vielleicht ist es auch so wie sie vermuten und er hat sie verlassen und sie will das nicht zum Thema machen. Nur werde ich das Gefühl nicht los, dass da etwas nicht stimmt. Die Polizei sagt, sie haben keinen Grund, aktiv zu werden und das verstehe ich ja auch. Wenn ich Sie jetzt aber dafür bezahle, dass Sie diskrete Ermittlungen anstellen, um herauszufinden, was tatsächlich passiert ist, dann haben wir etwas in der Hand, um das die Polizei sich kümmern muss oder, was viel besser wäre, ich kann wieder ruhig schlafen.“
„Na gut.“, sagte ich und nannte ihr meinen Preis. „Dann brauche ich von Ihnen noch Namen und Anschrift des besagten Paares und ich mache mich gleich morgen an die Arbeit.“
FORTSETZUNG FOLGT

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Freitag, 27. März 2020
Schmerz
Sie fanden sie in Seitenlage, zusammengekrümmt in ihrem Bett. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen, was bei dem Geruch im Treppenhaus zu erwarten gewesen war. Sie war nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt, das hatte einige Leute auf Trab gebracht, das und der Geruch. Die Kriminalpolizei schickte die Spurensicherung und nahm die Leiche zur Obduktion mit.
Nichts deutete auf ein Verbrechen hin: keine Verletzungen, keine Vergiftungen, es war wohl einfach so gekommen, dass ihr Herz stehen geblieben war.

Sie hatte nicht so viele private Kontakte gehabt, nur beruflich war sie sehr umtriebig gewesen, dort allerdings engagiert und meistens fröhlich und gut gelaunt. Alle waren sich einig: Für Suizid, war sie nicht der Typ. Es gab ja auch keinen Abschiedsbrief.

In den letzten Wochen hatte sie allerdings etwas nachgelassen, war einem Kollegen aufgefallen. Sonst hatte sie sich vor keiner Arbeit gedrückt, war mit Esprit ans Werk gegangen, empathisch gegenüber der Zielgruppe, hilfsbereit gegenüber Kolleginnen und Kollegen. Vielleicht war sie einfach mit ihren Kräften am Ende gewesen. Sie hatte in den letzten Wochen irgendwie unkonzentriert gewirkt, das Lächeln hatte sich weitestgehend aus ihrem Gesicht verabschiedet und wenn da eines gewesen war, dann meistens ein bitteres. Auch waren die Augen oft rot gerändert, wie bei einer ausgewachsenen Pollenallergie oder bei einem Menschen, der viel weint. Blass und mit hängenden Schultern war sie umher geschlichen, als wäre sie in Trauer.

Das war sie auch, aber niemand wusste davon. Es war ja auch niemand gestorben, um den sie getrauert hätte. Aber da war ein Kollege gewesen, einer zum Pferde stehlen, einer für den sie alles getan hätte und auch vieles getan hatte, bis zum letzten Blutstropfen. Und dann hatte er einen Karrieresprung hingelegt, wechselte zu einem anderen Träger. Aber er blieb ja in der Stadt, sie würden in Kontakt bleiben, sich privat verabreden, wenigstens gelegentlich, das hatte sie getröstet, wenn auch nur schwach.

Als es dann auf den letzten Metern in seiner Einrichtung zu einem Rieseneklat gekommen war, hatte sie in großer Sorge um ihn bei ihm angerufen, um sich zu erkundigen, wie es ihm gehe, natürlich um für ihn da zu sein, ihm zur Seite zu stehen, ihn nicht im Stich zu lassen, wie man das bei Freunden eben so tut.
Er hatte sie angeblafft, hatte reagiert, als wenn sie ihn mit Nichtigkeiten bestürmt hätte, wie eine lästige Stalkerin. Sie hatte die Welt nicht mehr verstanden. Sie hatte sich verabschiedet mit einem „Wir hören sicher wieder voneinander.“
„Lieber per Mail.“, hatte er erwidert, freundlich aber bestimmt. Nicht einmal telefonieren wollte er mit ihr, er, für den sie alles getan hätte.
Als sie sich das nächste Mal gesehen hatten, hatte er ihr ein Buch zurück gegeben, das sie ihm geliehen hatte.
„Und wie hat es dir gefallen?“
„Weiß ich nicht. Offen gestanden bin ich nicht dazu gekommen, es zu lesen.“
„Und warum behältst du es dann nicht noch?“
„Weil wir uns ja demnächst nicht mehr sehen, wenn wir nicht mehr zusammenarbeiten.“

Das war mehr als eine klare Ansage gewesen. Und wenn die Beamten, die ihren Rechner durchforstet hatten, davon gewusst hätten, hätten sie verstanden, was in der zuletzt veränderten Datei gespeichert war:

er will mich nicht
will mich nicht
mich nicht
nicht.

Ich sitze
ich atme
ich wiege hundert tonnen
nicht einmal ins leere stürzen kann ich
ich kann mich auch nicht auflösen

ich bin nur schmerz
bin nur schmerz
nur schmerz
schmerz

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Freitag, 20. März 2020
Eremit
Endlich Ruhe. Was für ein Geschenk. Endlich war er da angekommen, wo er schon immer hinwollte. Als Frauke vor einem halben Jahr ausgezogen war, hatte er zunächst einen Anflug von Panik verspürt, eine große Verunsicherung, die Störung der gewohnten Abläufe, da war etwas unkontrollierbar aus den Fugen geraten, entzog sich seiner Selbstwirksamkeit.
Doch Woche für Woche hatte er gelernt, mit den neuen Anforderungen des Alltags fertig zu werden, hatte feste Tage für seine Routine-Einkäufe, hatte gelernt, sich selbst etwas Schmackhaftes zu essen zuzubereiten und hatte zunehmend die störungsfrei Zeit in seinen eigenen vier Wänden genossen. Kein plärrendes Radio in der Küche, kein nervtötendes Herzkino im Wohnzimmer, keine geschäftige Gattin, die hier etwas ordnete, da etwas putzte, dort etwas zusammenrührte und ihn permanent mit Nichtigkeiten belästigte, seien es Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, aktuelle politische Entwicklungen, die neuesten Zipperlein und ausführliche Berichte von Arztbesuchen, ihre Nörgeleien, weil er schmutzige Wäsche im Bad liegen ließ oder seinen Tee zu lautstark schlürfte.

Perfekt war es trotzdem nicht gewesen. Die Gemeinde hatte ihm kaum Ruhe gelassen. Neben den üblichen regelmäßigen Amtshandlungen wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, hatte es immer Übergriffe auf sein Privatleben gegeben: Anrufe aufgeregter, wichtigtuerischer Presbyter, die ihre Schlaflosigkeit mit ihm teilen wollten, weil irgendein Haushaltsloch ihnen keine Ruhe ließ. Kurzfristig anberaumte Sitzungen aufgrund vermeintlicher Krisen, psychisch labile oder einsame Menschen, die den persönlichen Kontakt suchten für ein tröstendes Gespräch, abgebrannte Präkarier, die vor der Tür standen und es nicht dabei beließen, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sondern versuchten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er sie nicht umfassend aus ihrem Elend rettete und ihnen so viel Unterstützung gewährte, dass sie für die nächsten Monate ausgesorgt hatten, die manchmal aggressiv wurden und versuchten, ins Haus zu kommen; hormonell übersteuerte Pastorenschwalben von unterirdischem Marktwert, die ihre heimliche Schwärmerei kaum verbergen konnten oder sich nicht einmal Mühe gaben, eine höfliche und angemessene Distanz zu halten.

Das war jetzt alles ausgesetzt, der Seuche sei Dank. Der stille, von hohen Hecken umsäumte Garten, war in goldenes Frühlingslicht getaucht, die Narzissen blühten um die Wette mit dem schneeweißen Mirabellenbusch und niemand suchte ihn auf, weil man persönliche Kontakte ja vermeiden sollte. Gottlob war vor einer Woche seine Telefon- und Internet-Verbindung zusammengebrochen und ein Mobiltelefon besaß er nicht, das lehnte er kategorisch ab. Er war nun ganz auf sich zurückgeworfen, ging jeden Morgen ins Gemeindebüro, hörte dort den Anrufbeantworter ab, sah die Post durch, rief Leute zurück, erteilte der Verwaltungskraft Arbeitsaufträge fürs Homeoffice und hatte zu seiner großen Erleichterung schon seit einer Woche niemanden mehr beerdigen müssen.

Er war ganz auf sich selbst zurückgeworfen, spürte den wärmenden Wollstoff auf seiner Haut, der ihm die gefährliche Frühlingskühle vom Leib hielt, spürte den Puls in seinen Adern, den Geschmack auf der Zunge, wie der Atem in seine Lungen strömte und sie wieder verließ, wo sein Körper den Boden und den Stuhl berührte, wie die Schwerkraft ihn mit der Erde verband. Er hörte in sich hinein, hörte es brausen und tosen. So viel war da in ihm, das ans Licht wollte und immer nicht konnte, weil es permanent zu Störungen kam. Doch jetzt begann es sich Bahn zu brechen, wie der Keimling aus einem Samenkorn, der mit aller Kraft, die über ihm verdichtete, lehmige Erde durchbrach. Alle Weisheit und Erkenntnis dieser Welt schlummerte in ihm und nun erwachte sie, um sich schon bald in voller Pracht zu entfalten.

Da! Verdammt. Dieses entsetzliche, schrille Geräusch, Inbegriff der Unterbrechung, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wer wollte denn jetzt etwas von ihm? Das konnte doch nur die wabernde Waltraud sein, die ihn mit einer überwürzten Pizza-Suppe verköstigen, bestechen, verführen oder einfach nur ihren überkochenden Gefühlen Ausdruck verleihen wollte. Er hatte bereits den unappetitlichen Geruch von Schweinehack und minderwertigem Schmelzkäse in der Nase, alles in ihm sträubte sich, die Tür zu öffnen, dennoch erhob er sich pflichtschuldig von seinem Stuhl und schritt schwerfällig zur Haustür.
Durch das Fenster erblickte er einen Mann, der von der Haustür abgewandt auf die Straße blickte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann ständen die Bettler vor seiner Tür und würden nebenbei telefonieren, wie es etliche bereits an der Supermarktkasse taten. Gereizt riss er die Haustür auf, doch bevor er ein barsches „Ja, bitte?“ hervorstoßen konnte, war der Mann schon in seiner Wohnung und zwei weitere, die direkt neben der Haustür gestanden hatten, kamen hinterher, schlossen die Tür, rangen ihn zu Boden. Sie rochen säuerlich, hielten ihm mit nach Nikotin stinkenden Fingern den Mund zu, dann hörte er das enervierende Geräusch von abgezogenem Reparaturband. Sie umwickelten seine Hand- und Fußgelenke damit und verschlossen ihm schließlich den Mund. Dann ließen sie ihn liegen und schwärmten aus. Idioten. Was gab es bei ihm schon groß zu holen? Die paar Kröten in der Diakonie-Kasse waren den Aufwand nicht wert. Er besaß keine Wertgegenstände wie Schmuck, Münzen oder handliche High-End-Geräte.
Das Atmen fiel ihm schwer. Die Nasenschleimhäute waren leicht geschwollen, er bekam nicht genug Luft, sein Herz raste und überall im Haus hörte er Schranktüren klappern, das polternde Ausleeren von Schubladen, schwere Schritte.
Irgendwann waren sie fertig. Sie verließen das Haus, wortlos, maskiert, bis sie ins Licht traten, ließen ihn liegen, schlossen die Haustür.

Frauke fühlte sich endlich frei und war heilfroh, dass sie die folgende Zeit der weitestgehenden sozialen Isolation nicht mit ihrem dauermürrischen Ehemann verbringen musste, sie hatte den Kontakt komplett abgebrochen und spürte die heilsame Wirkung des Abstands sich täglich entfalten.
Gemeindeglieder waren mit innerer Unruhe und verzweifelten Hamsterkäufen vollkommen ausgelastet. Ihren Pfarrer würden sie erst wieder brauchen, wenn die Ausgangssperre einsetzte.
Das Gemeindeleben war praktisch zum Erliegen gekommen, darum hatte man auch im Presbyterium kaum etwas zu tun.
Waltraud zerriss es das Herz, dass sie den Herrn Pfarrer nicht besuchen konnte. Sie wollte seine Gesundheit nicht gefährden und für ein Telefongespräch war sie nicht wortgewandt genug, hatte auch zu wenig Phantasie, um einen Grund für einen Anruf zu finden.
Man fand ihn erst nach ein paar Tagen, als es mehreren aufgefallen war, dass er nicht ans Telefon ging und auch nicht mehr im Gemeindebüro gewesen war.
Bestattet wurde er in aller Stille, mehr war nicht drin in der Krise, aber die Stille hatte er ja auch gewollt.

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