Samstag, 27. Juli 2024
Spoiler 32 - nichts für Kinder
2017
„Christopher Nolan oder Ryan Gosling?, fragte Paula.
„Eher Christopher Nolan“, meinte Viola. „Und du so?“
„Ich finde Ryan Gosling sieht netter aus.“
„Ja, aber nett ist ja nicht geil.“
„Doch, irgendwie schon.“
„Also ich würde ja eher schwanken zwischen Daniel Craig und Robert Downey Junior.“
„Die sind beide steinalt.“
„Aber geil. Und sind ja nur Schauspieler, keine echte Jungs in unserem Hood.“
„Aber was findest du geil an Daniel Craig?“, fragte Paula.
„Der kann sich so toll bewegen.“, schwärmte Viola, „Wie eine Katze. Und dann hat er diese irren, blauen Augen, und überall voll die Muskeln, sogar im Gesicht. Kein Gramm Speck.“
„Wie eine Kampfmaschine.“, entgegnete Paula. „Voll der harte Hund. Willst du so einen in deinem Bett haben?“
„Wenn er nett zu mir ist.“, hauchte Viola und fing dann an, dreckig zu lachen. Paula fiel mit ein in das Gelächter.
„Weißt du, wen ich toll finde?“, fragte Paula. „Ich weiß nicht, wie der Schauspieler heißt, aber der spielt in „Game Of Thrones“ den Bruder von dieser Drachenmama.“
„Ah, du hättest gern Sex mit deinem Bruder?“, fragte Viola.
„Ich hab‘ gar keinen Bruder.“
„Ich weiß. Aber vielleicht hättest du ja gern genauso einen, der würde dann so ähnlich heißen wie du. Paul! Oh, Paul! Jajaja!“
„Ach, du bist ja doof. Inzest ist doch echt das Letzte.“
„Ja, stimmt.“, sagte Viola und ihr Blick verfinsterte sich. Dies wäre nun ein Moment gewesen, ihrer besten Freundin einmal die gesamte Bandbreite ihres häuslichen Elends zu offenbaren, aber wie sollte sie anfangen? Welche Details waren notwendig, um die Umstände so zu beschreiben, dass ihre Freundin das Ausmaß ihres Leidens begriff? Mit welchen Details würde sie ihre Freundin verschrecken und verstören? Und würde sie ihr am Ende vielleicht gar nicht glauben, sie der Lüge bezichtigen und die Freundschaft aufkündigen?

Paula war aufgefallen, dass Violas ausgelassene Stimmung einem Ausdruck von Ernsthaftigkeit, wenn nicht gar Verbitterung gewichen war. Etwas stimmte nicht. Das spürte sie.
Sie wechselten das Thema: die Hausaufgaben, die noch zu erledigen waren, der ungeliebte Mathelehrer, das Warten auf die Ergebnisse der letzten Englischarbeit.

Als Viola wieder nach Hause kam und sich direkt in ihr Zimmer zurückziehen wollte, stellte Astrid sich ihr in den Weg. „Augenblick, Madame“, eröffnete sie die Unterhaltung und die gezielte Strenge in ihrem Ton verstärkte Violas Unwillen und Widerstand. „Du hast schon vor drei Tagen versprochen, Dein Zimmer aufzuräumen und du hast heute Morgen zum 125. Mal dein Frühstücksgeschirr wieder AUF die Spülmaschine gestellt statt hinein.“
„Nerv mich nicht mit dieser kleinkarierten Scheiße!“, fauchte Viola. „Kümmer dich lieber darum, dass es deinen Kindern gut geht!“
Sie schob Astrid grob beiseite und wollte gerade in ihr Zimmer stürmen, um sich dort einzuschließen, da packte Raimund, der die Auseinandersetzung mitbekommen hatte, sie von hinten am Oberarm, riss sie herum und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.
„Red‘ gefälligst anständig mit deiner Mutter und zeig ein bisschen Respekt!“, brüllte der Vater. „Wenn du meinst, dass du den ganzen Tag rumlungern und deine Aufgaben vernachlässigen kannst, hast du dich geschnitten. Hier werden ab sofort andere Saiten aufgezogen. Drei Wochen Hausarrest. Du verlässt das Haus nur für die Schule und kommst direkt danach nach Hause. Und wenn du dir noch einmal so was leistest, dann kannst du mich mal ganz anders kennenlernen.“
Viola konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Vater über abgründige Eigenschaften oder Ideen verfügte, die sie an ihm noch nicht kannte. Sie hatte gehofft, dass ihr Heranwachsen, den Abstand zu Raimund allmählich vergrößerte. Doch statt ihm nach und nach zu entkommen, war sie ihm nun nahezu pausenlos ausgeliefert, weil er wieder einen Weg gefunden hatte, sie zu beherrschen. Immer wieder zwang er sie zur Mithilfe bei Arbeiten, bei denen sie zu zweit und unbeobachtet waren und ließ sich dabei immer neue Spielarten seiner sexuellen Entgleisungen einfallen. Viola fand kaum noch Schlaf, sie wurde fahrig, war unkonzentriert und ihre schulischen Leistungen sackten ins Bodenlose. Das wiederum nutzte Raimund, um noch mehr Druck auszuüben und außerdem eine Vielzahl erotischer Gefälligkeiten von ihr zu erpressen.

Wie zu erwarten kam es auch in der Schule zu Verhaltensauffälligkeiten. Viole reagierte extrem aggressiv auf auch nur kleinste Grenzverletzungen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler und galt in der Lehrerschaft als renitent, unverschämt und unberechenbar. Leider führte dieses Verhalten zu keinerlei Elterngespräch, denn der neue Klassenlehrer hatte das Mädchen von Anfang an abgeschrieben: Lolita, substanzlos, zum Scheitern verurteilt.
Als die schlimmsten Peiniger in der Schule erwiesen sich aber mitnichten die Lehrkörper oder Mitschüler; es waren die Mädchen, die keine Gelegenheit ausließen, ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen. Dies geschah teils aus der verbreiteten Selbstgerechtigkeit, bei der Menschen meinen, sich selbst aufzuwerten, indem sie andere abwerten, teils aus Eifersucht und Neid, weil Viola über ausgeprägte weibliche Reize verfügte, die sie effektvoll in Szene zu setzen verstand. Die Jungen blickten ihr schmachtend nach, während sie die meisten anderen Mädchen bestenfalls mit Ignoranz bedachten – in schlimmeren Fällen mit Hänseleien oder abfälligen Bemerkungen.

Es kam während einer großen Pause zu einer unschönen Konfrontation. Louisa, die Tochter eines örtlichen Handwerker-Meisters hatte entschieden, dass Viola in Sachen Aufmerksamkeit das abgriff, was eigentlich ihr zustand. Sie betrachtete Viola mit Geringschätzung und bemerkte lautstark: „Ich finde ja, gebrauchte Klamotten sind was für Assis.“ Dabei streckte sie den Busen vor und strich selbstgefällig über ihre hochwertigen Markenjeans.
„Willst du auf‘s Maul?“, fragte Viola barsch.
„Was zu beweisen war.“, erwiderte Louisa schnippisch.
„Lieber Assi, als ‘ne eingebildete Tussi, nach der sich trotz Markenklamotten keiner umdreht.“
„Vielleicht will ich mich auch einfach nicht von jedem x-beliebigen Penner flachlegen lassen.“, hielt Louisa dagegen.
„Viel Spaß dann mit Axel Schweiß mit Aktentaschenakne und sicherem Ausbildungsplatz bei der Sparkasse. Und jetzt hör auf mich zu nerven!“
„Du nervst mich durch deine bloße Anwesenheit, du elende Bitch!“
„Ich steh auf Bitches!“, rief ein älterer Junge herüber, der die Szene beobachtet hatte. Er lachte Viola an und beim Anblick seines sympathischen Gesichts ging ihr das Herz auf. Sie spürte sofort, dass er nicht nur in diesem Moment auf ihrer Seite war und dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
Sie wurden ein Paar, sehr zum Leidwesen von Violas Mitschülerinnen, denn Lasse galt auf dem Schulhof als hoch gehandeltes Sahneschnittchen.
Lasse erwies sich als verlässlich und sensibel. Wenn Viola bei ihm war, fühlte sie sich sicher und behütet. Erste Vorstöße, bei ihrem Freund zu übernachten, lehnten beide Eltern kategorisch ab: Astrid, weil sie sich sorgte, Viola könne bei so viel Zeit mit dem älteren Freund Schaden nehmen; Raimund vordergründig, weil er um ihren Ruf fürchtete, in Wahrheit jedoch, weil er die unerschöpfliche Quelle seiner Lust mit niemandem teilen wollte.
Schließlich griff Viola zu der ältesten aller Listen: Sie gab vor, bei der besten Freundin zu übernachten und Paula spielte mit. Und dann dachte Viola manchmal, dass Schwangerschaft vielleicht ein Ausweg sei.

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