Samstag, 11. Mai 2024
Spoiler 24
2002

Im Juli 2002 brachte Astrid ihr erstes Kind zur Welt. Viola. Sie hatte einen vollen Tag in den Wehen zugebracht und war äußerst erschöpft. Die Schwangerschaft war ebenfalls nicht leicht gewesen. Den ganzen Herbst hindurch hatte sie unter Übelkeit und Erbrechen gelitten und deutlich an Gewicht verloren. Im Winter war sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen aber im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte sie mit heftigen Wassereinlagerungen, Beckenproblemen, Sodbrennen und chronischer Erschöpfung zu kämpfen.
Als es endlich geschafft war, trat neben der Freude und Erleichterung auch bald neue Tatkraft an die Stelle des Leidensdrucks. Die Hormone machten sie belastbar und sie blühte förmlich auf durch die Mutterschaft.
Nicht einmal das chronische Naserümpfen der Schwiegermutter über alles und jedes brachte sie aus dem emotionalen Gleichgewicht, Ingrid war voller Neid auf das junge Lebensglück, das ihr ungerechterweise so perfekt erschien.

Die sogenannte Pinkelparty hatte Astrid hingegen zuriefst erschüttert. Kaum war sie nach der Entbindung mit dem Neugeborenen in das Familiennest zurückgekehrt, wurden Freunde und Bekannte eingeladen, um auf die neue Erdenbürgerin anzustoßen. Raimunds Kumpel von der Feuerwehr und aus der Zeit der Landjugend waren schnell vollgetankt und mit jedem Bier wurde deren Scherze zotiger und abstoßender. Astridt war entsetzt, stellte Raimund am nächsten Tag zur Rede und die Fortsetzung dieser Freundschaften infrage.
"Das war doch nur Spaß.", versuchte Raimund sie zu beschwichtigen. "Die waren besoffen und haben ein bisschen Scheiße gelabert."
"Der Spaß hört für mich da auf, wo man Witze macht, in denen es darum geht, sich an Kindern zu vergreifen.", entgegnete Astrid. "Die haben nicht ein bisschen Scheiße gelabert, die haben sich ausgemalt, wie es wäre, es mit einem kleinen Mädchen zu machen . Warum sonst hätten sie den Spruch abgelassen, dass bis zur Hochzeit alles wieder verheilt ist?"
"So war das bestimmt nicht gemeint.", verteidigte Raimund seine Freunde. "Ich kann' die schon ewig. Das sind doch keine Kinderficker!"
"Aber keiner von denen bleibt jemals mit Viola allein! Das musst du mir versprechen!"
"Versprochen. Das will ja auch keiner."

Als die Zeit des Mutterschutzes um war, setzte Astrid die Babypause fort. Drei Jahre Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen, erschien ihr sinnvoll, danach würde sie in Teilzeit wieder einsteigen.

Raimund war nur mäßig zufrieden mit der neuen Lebenssituation: Einerseits erfüllte die Vaterschaft ihn mit Stolz und er war zufrieden, dass alles nach Plan lief. Andererseits empfand er es als herbe Enttäuschung, dass seine Frau, die nun den ganzen Tag lang zu Hause war, nicht sanft lächelnd und wegen des Verzichts auf Erwerbsarbeit entspannt und ausgeglichen darüber nachsann, mit welchen kulinarischen und zärtlichen Leckerbissen sie ihn überraschen und verwöhnen konnte, sondern gereizt und bisweilen überfordert mit der Versorgung des Säuglings und der Regeneration ihres eigenen Körpers nach der Schwangerschaft vollauf beschäftigt war. Es trübte seine Laune, doch er erfuhr in Männergesprächen, dass es anderen jungen Vätern ähnlich erging.

Astrid war angesichts von Stress und Arbeitsbelastung keineswegs verwundert; sie war sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen. Worauf sie nicht vorbereitet gewesen war, war die penetrante Einmischung ihrer Schwiegermutter. Statt sich in ihrer behaglichen Wohnung zu entspannen oder etwas Anregendes zu unternehmen, kaufte sie gesüßte Säuglingsnahrung, billige Babywäsche und minderwertige Windeln. Astrid sollte lieber auf Flaschennahrung umsteigen, dann könnte die Oma das Füttern übernehmen und sie habe mehr Zeit, ihren Mann zu verwöhnen.
Wenn Astrid die kleine Viola im schattigen Teil des Gartens auf einer Decke strampeln ließ, erklärte ihr Ingrid, man müsse die Kinder kurz in die Sonne legen, damit sie nicht an Rachitis erkrankten und dann fest eingepackt im Körbchen oder im Kinderwagen schlafen lassen.
Astrid verdrehte die Augen, erklärte, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gebe und dass sie Viola weder der direkten Sonne aussetze noch gedenke, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Bei jedem Interventionsversuch schlug Ingrid einen freundlichen, lockeren Ton an und lächelte gewinnend, so als wolle sie nur unterstützen, aber Astrid spürte nur allzu deutlich, dass es hier um nichts Anderes als Macht ging. Umso entschiedener richtete sie all ihre Bestrebungen darauf aus, bis zur Rückkehr in den Beruf einen verlässlichen Kita-Platz für ihre Tochter zu organisieren, um ihr Kind vor der wenig altersgerechten Behandlung durch die eigenwillige Großmutter zu beschützen.

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