Donnerstag, 26. Oktober 2023
Spoiler 2
1956
Die Stallarbeit war erledigt, Fritz schrubbte seine Hände mit Schmierseife und ging danach mit einem Waschlappen durchs Gesicht, dann schlüpfte er wieder in seine Sonntagskleidung. Die Manchester-Hosen, das dicke Hemd, den alten Pullunder und den Baumwollkittel hängte er zum Lüften an den Kleiderhaken in der Viehküche, die Holzpantinen stellte er neben die leeren Milchkannen und in den neuen Cordschlappen kehrte er in den Wohnbereich zurück.
In der Stube hatte Lisbeth den Ofen ausgehen lassen, sogar die Schütte mit den Eierkohlen war leer.
"Gerd!", brüllte er seinen Ältesten herbei. "Hol mal neue Kohlen!"
Wenn auch unwillig gehorchte Gerd. Der jüngere Rainer linste neugierig um die Ecke.
"Hol mal 'n Bier aus'm Keller!", fuhr Fritz ihn an. Er verschwand sofort, kehrte aber kurz darauf unverrichteter Dinge zurück. "Is alle.", erklärte er einsilbig.
"Wie alle?", fragte Fritz. "Ich hab deiner Mutter doch gesagt, dass sie ne neue Kiste kaufen soll. - Lisbeth! Warum hast du kein Bier gekauft? Wo steckst du überhaupt?"
Lisbeth kam aus dem Schlafzimmer geschlichen mit dunklen Ringen unter den Augen.
"Ich hab Kopfschmerzen.", stöhnte sie. "Was ist denn los?"
"Bier is' alle. Wieso hast du kein neues gekauft? Hatte ich dir doch gesagt."
"Hab' ich vergessen."
"Wie kann man so was vergessen?", ereiferte Fritz sich.
"Meine Güte!", stöhnte Lisbeth. "Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe. Wirst schon nicht tot umfallen, wenn es mal kein Bier gibt. Säufst sowieso viel zu viel."
"Was tu ich?", brüllte Fritz. "Wenn ich den ganzen Tag im Stall malocht habe, dann hab' ich auch ein Recht auf ein bisschen Entspannung. Andere liegen Sonntags auf der faulen Haut und meine Frau liegt faul im Bett rum und vergisst alles."
"Ich hab Kopfschmerzen.", verteidigte Lisbeth sich.
"Ich geb dir gleich Kopfschmerzen!", brüllte Fritz und schlug mit der Rückhand gegen Lisbeths Jochbein. Der Schlag traf sie so unvermittelt, dass sie beinahe zu Boden ging. Sie schrie laut auf.
"Hör auf rumzubölken!", brüllte Fritz und trat sie ins Gesäß. Rainer stand in der Tür und starrte fassungslos seine Eltern an. Gerd kam mit dem Kohlenkasten und sein Vater wies ihn barsch an: "Stell den einfach da hin. Geheizt wird später. Eure Mutter geht ins Bett, ihr Jungs könnt Fußball spielen und Ingrid kann Seilspringen oder Hinkeln gehen. Ich gehe ins Dorf, ich kriege mein Bier schon und morgen schicke ich eure Mutter ne neue Kiste kaufen. Und jetzt ab mit euch."

Im dunkelsten Winkel unter der Treppe kauerte Ingrid und betete, dass der Vater nicht nach ihr suchte.
Im dunkelsten Winkel seines Herzens malte Rainer sich aus, wie er den ganzen Saft aus seinem Vater heraus prügelte, bis er sich nicht mehr rührte.
Und die dunkelsten Winkel in Gerds Seele waren längst verschlossene Räume.

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