Freitag, 6. September 2019
Fauxpas
Sie hatte dem kleinen Racker nur die Leviten lesen wollen, ihm nicht damit auf den Kopf schlagen und schon gar nicht das Genick brechen wollen. Sie war keine Mörderin. Sie hatte noch nie jemanden totgeschlagen, nicht einmal geohrfeigt. Das war ein Versehen, dafür musste man doch Verständnis haben. Nein, ihr schwante, dass niemand dafür Verständnis haben würde. So etwas durfte einfach nicht passieren, schon gar nicht nach dem, was er getan hatte. Jeder Richter würde von einem eindeutigen Motiv sprechen. Sie hatte nur eine Chance. Sie musste dafür sorgen, dass niemand auf die Idee kam, sie mit diesem Grauen in Verbindung zu bringen.

Sie spürte noch immer das sanft nachgebende Fleisch seines Oberkörpers. Er hatte sie umarmt, als wäre es das letzte Mal. War es ja auch, zumindest für sechs Wochen. Unter ihren Händen hatte sie seine harten Muskeln gefühlt und er hatte seine rauhe Wange an der ihren gerieben wie zu einem Kuss. Eine halbe Unendlichkeit hatten sie so dagestanden, die Körper fest aneinandergedrückt, dann hatten sie loslassen müssen, ein letzter Blick in die traurigen Augen, gemurmelte Abschiedsfloskeln und von da an nur noch Erinnerung.
Sie wusste, dass es nicht ging. Sie passten nicht zusammen, zu verschieden war ihre Lebensweise, zu unterschiedlich ihre Alltagsbedürfnisse und trotzdem verging kein Tag, an dem sie sich nicht vor Sehnsucht nach ihm verzehrte. Schon bald würden sie sich wiedersehen, aber dann wüde es auch nicht mehr lange dauern und sie mussten sich für immer verabschieden.

Fünfzehn Jahre lang hatte sie als Theologin im Schuldienst mal mit großer Freude, mal mit letzter Kraft ihren Job gemeistert. Den männlichen Kollegen war sie dabei weitestgehend aus dem Weg gegangen. Da gab es zwar einige, mit denen sie sich einigermaßen gut verstand – meistens waren das auch Geisteswissenschaftler – aber angefreundet hatte sie sich immer nur mit Frauen.

Vor Fünf Jahren war Gregor aufgetaucht – Fachlehrer für Geschichte und Religion, hatte die Stelle gewechselt, weil seine Frau karrierebedingt hatte umziehen müssen, war ihr gefolgt um seine letzten Dienstjahre an einem neuen Ort durzustarten. Was für ein Mann! Und wie er aussah, so umwerfend, dass es kaum zum Aushalten war. Sie war ihm instinktiv aus dem Weg gegangen, um sich nicht Hals über Kopf hoffnungslos zu verlieben. Sie, in ihrer Mittelmäßigkeit auf allen Ebenen, wem konnte sie sich schon zumuten? Bestenfalls denen, die für sie gleichermaßen eine Zumutung darstellten. Darum war sie ja noch immer allein und würde es auch wohl bis zum Ende bleiben.

Doch dann hatten sie vor zwei Jahren dieses Projekt mit allen Religionslehrern gestartet. Die anderen Kollegen gingen ihr in ihrer schmerbäuchigen Selbstherrlichkeit zwar gehörig auf die Nerven, aber es war eine helle Freude, sich mit den Frauen darüber die Mäuler zu zerreißen und dann hatte es sich irgendwie ergeben, dass sie und Gregor das Projekt nach außen vertraten, in zahlreichen Gremien, bei öffentlichen und schulinternen Veranstaltungen. Sie waren ein gutes Team geworden, hatten auch das eine oder andere private Wort gewechselt und Gregor hatte sich an Herzlichkeit oft selbst übertroffen, seiner Freude Ausdruck verliehen, wenn er sie nach einer längeren Pause wiedersah, sie umarmt und angestrahlt.

Dann war es doch passiert. Sie hatte sich verliebt. Gregor war der erste, an den sie dachte, wenn sie morgens aufwachte und der letzte, bevor sie abends einschlief. Und im Tagesverlauf schlich er sich regelmäßig in ihr Bewusstsein. Sie wollte ihn so sehr, obwohl sie genau wusste, dass es niemals gutgehen konnte. In einem halben Jahr würde er für immer aus ihrem Leben verschwinden und alles um sie herum würde zurücksinken in das Aschegrau, in dem sie auch die Jahre zuvor verbracht hatte.

Ihr Mobiltelefon zwitscherte. Ihr Herz schien sich irgendwo zwischen Kopf und Hals eingenistet zu haben, so fühlte es sich jedenfalls an. Sie strich über das Display und klickte irritiert auf die von einer ihr unbekannten Person abgeschickte Nachricht.
„FIKT IHR NACH DEN FERJEN WIDER AUF DEM SCHULHOF?“ stand da.
Ein übler Schülerstreich. Irgendwer bekam doch immer ihre Mobilfunknummer heraus. Dann kam schon die nächste Nachricht. Diesmal ein Foto. Sie erkannte sofort sein blau-weiß gestreiftes Fischerhemd und ihre graue Seidenbluse, seine schwarz-grau melierten Locken und das eigene silberblonde Haar, dass zerwühlt um ihren Kopf loderte. Ihre Hände auf seinen Schulterblättern und der selbstvergessen, leicht geöffnete Mund über ihren hingebungsvoll geschlossenen Augen.

Später schloss sie dem jungen Schüler die Augen. Es war nun nicht mehr zu ändern. Er hatte sein Smartphone nicht mit einem Passwort geschützt, sie konnte das Foto einfach löschen, ebenso wie seine Nachricht an sie. Sie löschte die Nachricht auch auf dem eigenen Telefon, allerdings nicht, ohne vorher noch einmal ausgiebig das Foto zu betrachten, das sich für immer auf der Festplatte ihres Gehirns einbrennen würde. Schade, dass es kein Foto von der anderen Seite gab. Zu gern hätte sie Gregors Gesicht gesehen.

Das dicke Buch wischte sie ab und ließ es dann fallen. Danach verließ sie die Wohnung auf leisen Sohlen und betete inständig, dass niemand sie gesehen hatte.

Auf dem Heimweg dudelte plötzlich die Melodie von „Another Shade Of Pale“ in ihrer Handtasche. Verstört griff sie nach dem Telefon. Gregor rief an.
„Hallo Sabine“, begrüßte er sie aufgeregt. „Hast Du auch das tolle Foto von uns bekommen?“

ENDE

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Oha. Dumm gelaufen …
Vielleicht auch nicht: Seine Frau könnte das Foto auch … und dann wäre er frei: Happy-End - wenn man mal vom Mord absieht ...

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Welch bemerkenswerter Optimismus ;-)

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Wieder sehr klassisch. Das gefällt mir am besten, auch wenn dein Ausflug in die Seele durchgeknallter Reinkarnations-Heinis durchaus seine Reize hatte.

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Herzlichen Dank. Ob ich dieses Wochenende einen raushauen kann, weiß ich noch nicht. Zu viel Arbeit.

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Wenn ich sie richtig verstehe Frau Fabry, dann sollten sich Frauen mit weniger Optik, lieber für ein öffentliches Amt bewerben als für die Liebe. Der Gregor ist ja fast so wie ich mit sechzehn.

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???
Der ist doch über 60, der Gregor.

Und wieso Frauen mit weniger Optik? Die Mittelmäßigkeit kann sich doch auf alles mögliche beziehen. Aber warum sollten mittelmäßige Frauen sich nicht für die Liebe bewerben? Tun mittelmäßige Männer doch auch und zu recht mit Erfolg. Nee, ich glaube, da haben Sie mich anders verstanden, als ich verstanden werden wollte, aber das ist ja auch interessant.

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Bitte versuchen sie sich meine Textkritik jetzt nicht zu sehr zu beherzigen. Eventuell verstehe ich diesen auch nicht richtig wie sie sagen. Ich bin nicht der Marcel-Reich-Ranicki.

Das mit dem aktuellen Alter des Mannes habe ich überlesen. Entschuldigung. Aber sie schreiben doch "Sie, in ihrer Mittelmäßigkeit auf allen Ebenen, wem konnte sie sich schon zumuten?" Und der Mann ist sechzig oder darüber hinaus. Ich bin ein Mann auf dem Weg dorthin. Also so super sexuell werden Männer und Frauen nicht mehr, die auch dorthin unterwegs sind, und von denen einer der beiden droht auf allen Ebenen nur Mittelmäßig zu sein. Noch dazu im Alter. Nicht ohne Viagra. Oder einer der beiden hat einen brutalen Fetisch den man am anderen abarbeiten kann. Oder doch? Bei Pornos im Netz fallen die Herrschaften schon in die Kategorie "Grannys". Hochattraktiven Menschen, egal auf welcher Ebene, bewegen sich in der Regel in anderen Welten als die unansehnlich Masse. Da muss man gar nicht die Geschlechterfrage aufwerfen. Mittelmäßige Männer bekommen in der Regel auch keine hochattraktiven Frauen ab, so diese Herren der Zunft nur von der Stange sind mit Durchschnittseinkommen und Durchschnittsperversionen. Weder Männer noch Frauen kommen da groß über ihren biologischen Status hinaus. Außer die sind vermögend oder sonst wie. Die leben in anderen Welten. Bewerben können sich Frauen, die ihn allem Mittelmäßig sind natürlich für alles und jedes, genau so wie Männer mit Wampe, die hinten hinaus statt weiße nur noch unförmig werden und grantig sind, eben wegen Prostata. Nur werden die von Realität nicht besonders oft erhört. Oder doch?

Mittelmäßige Männer hatten halt recht lange beruflich die Nase vorne, was halt strukturell bedingt war. Aber bei den Ladys ging da auch früher gar nix. Da maße ich mir an zu wissen von was ich schreibe. Ich halte es aber für denkbar das ihr Text in allem völlig stimmig ist und ich über die Realität gestolpert bin. Das kam so. Vor der Tür stand ein teurer SVU von Mercedes. Riesige Karre. Brutal. Und als ich die Wohnungstür aufsperrte kam ein Mann, wohl in den noch mittleren Jahren aus der Nachbarwohnungstür. Die Bude steht aktuell zum Verkauf an. Gott sei Dank renoviert. Der war schön mit Wampe und wie aus dem Bilderbuch für Männer hinten hinaus, die nur noch der soziale Status retten kann, sollte es tatsächlich sexuell werden auf dem freien Sex-Markt. Hinter ihm trat plötzlich eine junge Frau aus der Tür. Brutalst attraktiv. Im engen schwarzen Rock, mit roter Bluse, und schwarzen Hochhackigen. Ich weiß im Netz ist immer Feminismus. Trotzdem sah die aus wie aus einem Neunziger-Jahre-Porno. Zumindest in meiner Wahrnehmung. Da kam die Frau nix für. Undenkbar dass der alte Sacke bei so einer Frau was zu melden hätte, ohne SVU von Mercedes und Kaufabsicht. Dass die beiden old-school waren dafür kann ich nix. Genauso wenig wie für ihre weiblichen Hauptfigur fehlt der jedes Selbstvertrauen fehlt. Und unter diesen Eindruck stehend las ich dann ihren Text. Also nix für ungut. Wenn sie mich fragen wie der Mann bekleidet war. Ich habe keine Ahnung.

Dieses Sexting-Ding soll ja im Netz andauernd laufen. Natürlich sind auch dort häufig junge Männer das Thema, nee Täter, und junge Frauen das Opfer. Die Frage ist ja wie weit man das Thema ins Alter verlegen kann. Wie ist eigentlich ihre Protagonistin.

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Jein,
Der Marktwert ist alles andere als irrelevant. Jedoch ist nicht immer schnöden Mammon oder Status im Spiel, wenn Alphatiere sich mit Mittelmäßigen paaren.Ein Mensch kann über vielfältige Vorzüge verfügen insbesondere im Auge des Betrachters. Wer weiß schon was ein Mensch beim anderen auslöst?

Wie meine Protagonistin ist? Oder wollten Sie wissen, wie alt sie ist? Vielleicht im gleichen Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger, auf keinen Fall älter. Aber offen gestanden hatte ich auch im Sinn, dass sie vergeblich sehnt und schmachtet. Vielleicht ist sie auch viel attraktiver als sie glaubt, traut sich nur nicht, sich zu zeigen, weil sie damit zufällig ein paar mal auf die Nase gefallen ist. Oder sie hat eigentlich Angst vor einer Beziehung und erwählt deshalb unbewusst Männer, deren Lebensmitteln nicht zulässt, sich auf sie einzulassen. Es gibt viele Möglichkeiten. Suchen Sie sich eine aus.

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Wie so oft hab ich inhaltlich nichts großartig beizutragen. Aber der Mond scheint so schön ins Zimmer. Ich wünsche Ihnen beiden eine angenehme Nacht <3

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In meinem letzten Kommentar hat die Autokorrektur aus Lebenssituation Lebensmittel gemacht. Doofes Telefönchen, blödes.

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