Mittwoch, 18. Oktober 2017
Werkstatt-Gottesdienst ein zweiteiliger Kurzkrimi – 2. Teil
Susanne gab einen erstickten Schrei von sich. Sie beugte sich zu der offenkundig bewusstlosen Kerstin hinunter. Sie tastete nach dem Puls und Atembewegungen, während der gesunde Menschenverstand langsam an die Stelle ihres Instinkt-gesteuerten Empfindens trat und ihr klar wurde, dass die Jugendreferentin ermordet worden war. Ein zertrümmertes Felsenbein bedeutete den sicheren Tod, soweit sie wusste. Sie suchte geistesgegenwärtig den Kirchsaal nach der ersten Vorsitzenden des CVJM ab und gab ihr ein Zeichen. Die eilte sofort herbei.
„Hast Du ein Telefon dabei?“, fragte sie mit bebender Stimme.
„Ja, warum?“
„Kannst Du eben die Feuerwehr anrufen? Wir brauchen einen Notarzt und die Polizei.“
Anstelle einer wortreichen Erklärung führte sie die Vorsitzende in die Sakristei. Auch sie schrie kurz auf, griff dann aber sofort beherzt zum Telefon.

Binnen Minuten traft der Notarzt ein, der nur noch den Tod feststellen konnte. Wenig später rückte die Polizei an und ein Ermittlerduo der Bielefelder Mordkommisssion.
Der übellaunig dreinblickende Mitt- bis Endfünfziger Stefan Keller blieb, nachdem sich die Beamten einen ersten Eindruck verschafft hatten, am Tatort, während seine jüngere Kollegin Sabine Kerkenbrock mit den Gottesdienstbesuchern das Gemeindehaus aufsuchte, um dort mit Hilfe weiterer Beamter Personalien aufzunehmen und Zeugenaussagen zu sammeln.

Die ersten Zeugen waren Linus und Giuliana, denn sie hatten das Mordopfer offenkundig als Letzte lebend gesehen – abgesehen vom Mörder.
„Wann wart ihr denn zum letzten Mal mit Eurer Jugendreferentin im gleichen Raum?“, fragte die Beamtin.
„Das war im Gemeindebüro.“, erklärte Giuliana. „Wir haben besprochen, wann wir Kollekte einsammeln müssen und was wir hinterher damit anstellen. Dann haben wir zusammengetragen, was die einzelnen Gruppen machen und einen Ablaufplan aufgestellt. Kerstin hat uns dann den Büroschlüssel da gelassen, uns große Pappen gegeben, damit wir den Ablauf zwei Mal aufschreiben, damit alle in der Kirche den lesen können. Dann ist sie gegangen.“
„Wann war das genau?“, fragte Kerkenbrock.
„So gegen viertel vor sieben.“, erwiderte Linus und Giuliana nickte zur Bestätigung.
„Und warum hat sie Euch allein gelassen?“, fragte Kerkenbrock.
„Sie wollte noch den Beamer aufbauen, um den Ablauf an die Wand zu werfen. Die Plakate waren nur für den Notfall.“, sagte Linus.
„Und habt ihr euch nicht gewundert, dass kein Beamer da war?“
„Ich dachte, der ist wohl kaputt oder Kerstin hat das mit dem Aufbauen nicht mehr geschafft.“, sagte Giuliana. „Sie war ja auch nirgends zu sehen, ich dachte, sie kämpft noch mit dem Beamer und dann hab ich irgendwie nicht mehr an sie gedacht.“
Das Mädchen senkte schuldbewusst den Kopf.
Kerkenbrock bedankte sich bei den Jugendlichen und befragte als nächstes die CVJM-Vorsitzende. Die erklärte: „Ich bin total schockiert. Kerstin wollte schon seit Jahren so einen Gottesdienst machen, und jetzt wo es endlich geklappt hat, wird sie dabei ermordet, so als wenn jemand sie daran hindern oder sie bestrafen wollte.“
„Denken Sie da an jemand bestimmten?“
„Ja, schon, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von denen so etwas tut. Es gibt so ein paar alte Vereinshasen, die haben die Jugendarbeit immer unterstützt, aber auch oft Ärger gemacht, wenn ihnen mal wieder besonders auffiel, dass die Dinge nicht mehr so liefen wie in ihrer eigenen Jugend. Die kommen sonst immer zum CVJM-Jahresfest, aber ich habe das Gefühl, heute haben alle den Gottesdienst boykottiert.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Der langjährige Kassierer hat mir gegenüber so zwischen Tür und Angel erwähnt, dass er diesmal nicht erscheinen würde, weil so ein Werkstatt-Gottesdienst für ein Jahresfest nicht festlich genug sei. Und jetzt ist keiner von der alten Truppe aufgetaucht, das riecht ein bisschen nach Verschwörung, finde ich.“
„Könnten Sie mir die Namen einmal aufschreiben?“, fragte Kerkenbrock.
Widerwillig nahm die Vorsitzende einen Stift zur Hand und notierte:
Harald Otterpohl
Heinrich Sickendiek
Rudolf Niederwelland
Erich Schmalgemeier
Karl Frederking

Kerkenbrock wandte sich an die wartenden Gottesdienstbesucher, deren Kontaktdaten man immer noch notierte. „Hat jemand von Ihnen vor oder während der Vorbereitungsphase für den Gottesdienst eine der folgenden Personen in der Nähe der Kirche bemerkt?“
Sie las die fünf Namen vor.
Ein älterer Herr meldete sich zu Wort und Kerkenbrock hörte einige Anwesende „Pastor Wüllner“, raunen, offenkundig ein Theologe im Ruhestand, der früher einmal in dieser Gemeinde gewirkt hatte.
„Ich habe Rudi Niederwelland kurz vor dem Gottesdienst gesehen und glaube auch, mich zu erinnern, dass er heute dran wäre, für seine fünfzigjährige Mitgliedschaft geehrt zu werden. Ich habe mich dann sehr gewundert, dass ich ihn im Gottesdienst nicht mehr gesehen habe und dass er auch jetzt nicht unter uns ist.“
„Wo genau haben Sie ihn gesehen?“
„Draußen, neben der Kirche. Er war mit seinem Telefon beschäftigt.“
„Wann war das?“
„Als ich ankam, so gegen kurz vor sechs.“
Ein Mann im fortgeschrittenen mittleren Alter meldete sich zu Wort: „Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen, Frau Kommissarin?“, fragte er.
Kerkenbrock stimmte zu und bat ihn in einen Nebenraum. Er stellte sich vor als Rudolf Niederwellands Schwager.
„Ich will das nicht vor allen Leute breittreten, vielleicht hat das ja alles nichts mit dem Mord an Kerstin zu tun, aber Tatsache ist, dass mein Schwager und die anderen vier, deren Namen Sie da gerade vorgelesen haben, einen Riesenaufstand veranstaltet haben. Mein Schwager war sauer, dass ausgerechnet zu seinem fünfzigsten Vereinsjubiläum so ein Experiment veranstaltet wird, statt einen anständigen Festgottesdienst zu feiern. Die haben sich abgesprochen, da nicht hinzugehen, darum wundere ich mich, dass Pastor Wüllner den Rudi gesehen haben will. Ich glaube auch nicht, dass mein Schwager der Kerstin etwas angetan hat, aber vielleicht weiß er etwas. Es war nämlich auch noch die Rede davon, so einen Ausverkauf des CVJM nicht widerstandslos hinzunehmen.“

Kerkenbrock bedankte sich und in Absprache mit Keller ließ sie sofort nach Rudolf Niederwelland fahnden. Er hatte das stärkste Motiv und Fluchtgefahr schloss Keller bei den vier anderen aus. Sie nahmen den dringend Tatverdächtigen fest und brachten ihn zum Verhör ins Präsidium. Aber Niederwelland machte nur Angaben zur Person und verweigerte ansonsten konsequent die Aussage. Man sah ihm an, wie schwer ihm das fiel, denn er wirkte mehr wie jemand, der es gewohnt war, den Ton anzugeben und laut zu werden, wenn ihm danach war.
In der Nacht versuchte er sich in der U-Haft das Leben zu nehmen, wurde aber rechtzeitig entdeckt und gerettet. Natürlich wurde die Ehefrau umgehend benachrichtigt und so verbreitete sich die Neuigkeit unter den Alt-CVJMern wie ein Lauffeuer. Rudis Kameraden entschlossen sich, ihren Freund nicht im Stich zu lassen und stellten sich gemeinsam der Polizei.
„Rudi trifft so gut wie keine Schuld.“, erklärte Harald Otterpohl. „Wir waren uns einig, dass wir es auf keinen Fall hinnehmen konnten, dass die Tradition und alles wofür unser CVJM steht, derartig von dieser Jugendreferentin vor die Wand gefahren wird. Wir mussten ein Zeichen setzen und verteilten die Aufgaben. Jeder nach seinen Gaben. Rudi war schon immer ein guter Beobachter. Auch früher in den Geländespielen hat er häufig den besten Überblick gehabt und war unheimlich gut darin, die gegnerische Mannschaft auszuspionieren.“ Harald schmunzelte selbstvergessen und seine Kameraden nickten eifrig und lächelten dabei. „Darum hatte Rudi nur die Aufgabe, die Jugendreferentin zu beobachten und Bescheid zu geben, sobald sie die Sakristei betritt. Sie hatte ja im Vorfeld rumgemailt, wer welche Arbeitsgruppe leitet und dass sie dann in der Sakristei zu tun hätte. Unser Karl hier ist gelernter Schlosser, der hatte das Werkzeug dabei, um die Sakristeitür von außen zu öffnen. Das kann er noch, wenn er auch kaum noch die Treppe hoch kommt mit seinen 1 ½ Lungen. Heinrich musste Schmiere stehen, der kann Pfeifen wie ein Murmeltier und dabei macht es auch nichts, dass er schon ein bisschen vergesslich ist. Erich hat den Stein besorgt, einen guten alten Ziegelstein, das fanden wir passend. Ich war schließlich derjenige, der es zu Ende gebracht hat und es tut mir nicht leid.“
Dass es vor allem Erich gewesen war, der alles erdacht und geplant hatte, verschwieg Harald. Und auch die anderen hielten den Mund, doch im Stillen dachte Karl: „Ach ja, so war der Erich ja schon immer, ganz große Klappe und wenn es ernst wird, die anderen vorschicken. Er kommt meistens damit durch, weil er sich nach außen immer freundlich und bescheiden gibt, so dass ihm niemand etwas Böses unterstellt.“
Als sie alle Aussagen aufgenommen hatten, konnte Kerkenbrock gar nicht aufhören, fassungslos mit dem Kopf zu schütteln.
„Ist das nicht furchtbar, Herr Keller?“, sagte sie. „Leben und töten für den CVJM. Es ist immer das Gleiche: die Religion wird vorgeschoben, aber eigentlich geht es nur um den verletzten Stolz und die individuelle Eitelkeit Testosteron-gesteuerter Menschen-Männchen. Sogar im Alter, wenn der Hormonspiegel eigentlich sinken müsste. Womöglich sind die in Dauerbrunftzeit geprägten Hirnwindungen so unveränderlich auf dieses Verhalten festgelegt, dass der Altersstarrsinn sie verstärkt und nicht Altersmilde sie abschwächt.“
„Vielleicht sind das aber auch einfach nur fünf debile Halbaffen, die es in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen gibt.“, erklärte Keller. „Oder wollen Sie jetzt den gesamten CVJM in Sippenhaft nehmen?“
„Nein.“, antwortete Kerkenbrock. „Das entspräche doch eher Ihrer Rolle. Ich meine ja auch gar nicht, dass es am CVJM liegt, sondern eben am Testosteron.“
„Jetzt werden Sie mal nicht sexistisch, Mädchen.“, wies Keller sie zurecht.
„Mädchen?!“ erwiderte sie entrüstet. „Und Sie wagen es, mir Sexismus zu unterstellen?“
„Ja, junge Frau.“, erwiderte Keller mit einem schamlosen Grinsen im Gesicht. „Ich wage es.“

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Ui,
Keller und Kerkenbrock scheinen ja nicht besonders beeindruckt zu sein von dem Mord. Aber die sehen das ja täglich ... ;o)

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interessante Wirkung,
die das auf Dich hat :-)

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Inwiefern???

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Ich meinte,...
...dass Dir die Kommissare so abgebrüht vorgekommen sind. Ich glaube, ich orientiere mich da zu sehr an Midsomer Murders und dem Münsteraner Tatort, die sind ja auch nie ernsthaft betroffen, bestenfalls angeekelt. Aber in den Fernsehkrimis sind die Ermittler meistens ziemlich lässig angesichts des Grauens, das ihnen da geboten wird. Im wirklichen Leben ist das, glaube ich, anders.

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Ja,
das glaube ich auch ... ;o)

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