Freitag, 12. August 2022
Strandgut - Auflösung der Foto-Blue-Black Story
Da lag sie nun; so wie er sie am liebsten in Erinnerung behalten wollte: sanft, rein, bescheiden und unschuldig. Einer von den jungen Leuten da drüben hätte sicher ein oder mehrere Fotos geschossen, um das Bild festzuhalten. Er machte es auf die altmodische Art. Er sah sie an und prägte sich alles ein.
Die letzten Jahre waren schwer, aber schön gewesen. Sie hatte sich ganz und gar seiner Fürsorge hingegeben, ihr war schließlich nichts anderes übrig geblieben. Und so war sie fast wieder zu der Frau geworden, die er geheiratet hatte.
Davor gab es eine Zeit der beginnenden Ablösung.

Sie hatten sich auf einer mehrtägigen Jugend-Evangelisation kennengelernt. Er war damals zwei-und-zwanzig, sie siebzehn Jahre alt gewesen. Nach einem halben Jahr hatten sie sich verlobt, nach einem Jahr geheiratet. Kinder waren ihnen versagt geblieben. Sie hatten nie nach den Ursachen geforscht, es einfach so angenommen und ihre gesamte Kraft in den Dienst der Gemeinde gestellt.

Aber dann, als das Thema mit den Kindern endgültig abgehakt war, da war sie seltsam geworden. Immer häufiger hatte sie vorgegeben, sich ausruhen zu müssen, wenn Kirchgang oder Gemeindeversammlung anstanden, sie war ihm beim Tischgebet teilnahmslos erschienen, hatte sogar dazu geneigt, es zu vergessen, hatte sich ohne Not neue Kleidung gekauft und im Bad hatte er lauter Tiegelchen und Fläschchen entdeckt, die vorher nicht da gewesen waren.

Als der Urlaub am Meer anstand, den sie sich einmal im Jahr gönnten, hatte sie vorgeschlagen, sich in einem feinen Hotel verwöhnen zu lassen, statt wie in jedem Jahr die kostenlose Ferienunterkunft ihrer Freunde zu nutzen. Das hatte er entschieden abgelehnt und gedacht, wenn sie erst wieder in der hübschen Wohnung sei und sie täglich durch die Dünen zum Strand radelten, käme sie schon wieder zur Vernunft.

Mitnichten! Sie hatte einkaufen wollen in den schönen Geschäften, war zurückgekommen mit Taschen voller überflüssiger Textilien und sinnlosen Dekorations-Artikeln, Kerzen, Seifen, Keramik...Sie war dem Dämon der Konsumsucht verfallen, dazu war sie aufmüpfig geworden, verletzend und immer unzugänglicher. Er hatte deutlich gespürt, wie sie sich von ihm entfernte. Er hatte befürchtet, sie zu verlieren und mit ihr auch seinen untadeligen Ruf, seine Stellung in der Gemeinde. Selbst, wenn sie bei ihm geblieben wäre: Welches Bild hätte er abgegeben mit einer derartig von Wollust und Dekadenz durchzogenen Gattin an seiner Seite?

Eines Nachmittags erklärte sie: "Ich habe noch nie Austern gegessen, so richtig, mit Zitrone und Weißwein und allem, was dazu gehört. Lass uns morgen Abend mal in das Restaurant am Yachthafen gehen, die haben Austern auf der Karte."
"Aber das ist entsetzlich teuer!", hatte er protestiert.
"Na und?", hatte sie frech entgegnet. "Wir bezahlen ja schon nichts für die Ferienwohnung, da können wir uns doch einmal einen Abend in einem schicken Restaurant gönnen. Ich will schon seit vielen Jahren einmal frische Austern probieren, es hat sich nur nie ergeben."
"Die kann man auch selbst zubereiten.", hatte er entgegnet. "Ich fahre gleich morgen früh zum Fischhändler und hole frische Austern. Dann besorge ich Zitronen, Gemüse für Salat, Kartoffeln, Knoblauch, Brot, Weißwein und etwas zum Nachtisch. Zufrieden?"
"Kannst du das denn?"
"In der Küche steht ein Kochbuch mit Fisch- und Muschel-Rezepten. Das klappt schon."

Am kommenden Tag war er nur mit der Vorbereitung des Menüs beschäftigt. Mit den Austern musste man nicht viel tun. Die Kartoffeln schob er mit Olivenöl, Salz und Rosmarinzweigen in den Ofen. Er bereitete einen Salat aus Rucola, Tomaten und Gurken, machte Knoblauchbutter zum Baguette und knappste etwas von dem Weißwein für den Nachtisch ab, den er einfror, um das Eis später fein zu hobeln und mit Honig und frischem Sanddornmark zu vermischen.
Er radelte in Dünen, erntete Sanddornbeeren und hübsche gelbe Blumen, mit denen er am Abend die Tafel dekorierte.

Das Menü war gelungen. Es schmeckte ihr und ihm auch. Beim Salat hielt er sich ein wenig zurück, gab vor, Rucola nicht ausstehen zu können und so stopfte sie sich mit dem Rucola auch das ganze Jakobskreuzkraut in den Mund. Von Pflanzen wusste sie nicht viel, darum machten die hübschen gelben Blumen, deren Blätter denen des Rucola täuschend ähnlich sahen, sie auch nicht misstrauisch.

Nun musste er nur noch warten. Etwa zwei Jahre später war es soweit. Die geplante Wirkung hatte eingesetzt. Bauchschmerzen und eine eigenartige Entfärbung des Stuhls ließen sie endlich einen Arzt aufsuchen, nachdem sie sich schon über ein Jahr unwohl gefühlt hatte.
Leberkrebs lautete die Diagnose. Nahezu unausweichlich nach dem Verzehr von Jakobskreuzkraut.

Als sie kaum noch bei Kräften war, überredete er sie zu einem letzten Urlaub am Meer. Am Strand tat sie ihren letzten Atemzug. Er hatte sie für immer verloren und gleichzeitig für immer behalten. Zum Abschied dekorierte er ihre Leiche mit den Artefakten ihrer Henkersmahlzeit.

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Freitag, 5. August 2022
Strandgut

Was ist hier passiert?

Alternativfragen werden täglich beantwortet - die komplette Lösung kommt in einer Woche.

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Freitag, 29. Juli 2022
Verwandlung
Das erste, das Jenny an diesem Morgen sah, war ihr eigenes kupferrotes Haar auf dem weißen Kopfkissen. Das war der Segen der Rothaarigen, sie ergrauten erst spät und so nannte sie mit Mitte Fünfzig noch eine Haarpracht ihr eigen, die einer jungen Frau in der Blüte ihrer Jahre würdig gewesen wäre.
Auch der Rest war noch in gutem Zustand: kaum Falten oder Bindegewebsschwäche am Körper, dank Ausdauertraining, Yoga und gesunder Ernährung, keine Skelett-Probleme, keine Krampfadern und ein ungetrübtes Wohlbefinden.
Heute war ihr freier Tag. Ausgeschlafen hatte sie, Jan war bei der Arbeit, Louis in der Schule und sie freute sich auf einen unbeschwerten Vormittag.
Auf dem Weg zur Toilette blieb es eigenartig still. Scarlett und Pepper, die beiden Kätzchen, die normalerweise eilig angetrippelt kamen, sobald sich jemand rührte, schienen irgendwo friedlich zu schlummern.
Nach der Dusche ging sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Noch immer waren die Kätzchen nicht in Sicht. Stattdessen standen zwei ihr unbekannte Gläser auf dem Küchentisch: Crème Caramel und Meersalz mit schwarzem Pfeffer. Als hätte ein Zauberer die beiden Kätzchen in Lebensmittel verwandelt. Wirklich eigenartig und ein bisschen gruselig. Sie würde Jan abends fragen, woher diese bretonischen Mitbringsel stammten. Vielleicht von einem Kollegen.

Die Suche nach Scarlett und Pepper blieb ergebnislos. Als die Eltern abends schlafen gingen, waren sie noch nicht wieder aufgetaucht, Louis würde erst in der Nacht heimkehren, er war auf einer Party eingeladen.
Die halbe Nacht lag Jenny wach. Was konnte den Kätzchen widerfahren sein? Waren sie durch die offene Haustür geschlüpft, draußen umhergeirrt und entführt worden? Sie würde gleich morgen einen Aushang entwerfen, zwanzigfach ausdrucken und überall aufhängen. Dummerweise waren sie noch nicht gechipt, es würde schwierig sein, zu beweisen, dass Scarlett und Pepper zu ihnen gehörten.

Am Samstagmorgen fühlte sie sich wie gerädert. Jan war schon aufgestanden, hatte Brötchen geholt und den Frühstückstisch gedeckt.
"Louis liegt noch im Koma.", meinte er. "Ich hoffe, er hat sich nicht sämtliche Englisch-Vokabeln weggesoffen."
"Ich seh? mal nach ihm, vielleicht will er doch schon frühstücken.", meinte Jennifer. Sie betrat das Zimmer ihres Sohnes und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Bett war zwar benutzt, aber das lag daran, dass Louis sein Bett nie machte. Eigenartigerweise lag mitten auf dem Laken eine Holzhaarbürste, die genau den gleichen Farbton hatte, wie seine blonden Locken. Louis benutzte keine Bürsten, nur einen groben Kamm und den auch nur gelegentlich. Bisher hatte er auch noch keine Freundin mit nach Hause gebracht und von einer Freundin war ja auch sonst keine Spur, genauso wenig wie von Louis.
"Er ist nicht da.", sagte Jennifer erschrocken.
"Der wird schon wieder auftauchen.", erwiderte Jan gelassen.
"Ich schreib ihm eine Nachricht.", sagte Jennifer.
"Wenn du meinst."
Louis reagierte nicht. Auch nicht nach Stunden. Sie riefen überall an. Auf der Party war er gewesen, hatte sie gegen drei Uhr nachts verlassen, um nach Hause zu fahren. Tatsächlich standen die Turnschuhe in seinem Zimmer, mit denen er abends aus dem Haus gegangen war. Er war also nachts zu Hause angekommen. Und dann? Es blieb ein Rätsel.
Die Polizei wollte nicht aktiv werden. Noch nicht. Wenn er Sonntagmorgen noch nicht wieder da sei, sollten sie sich melden. Die hatten vielleicht Nerven.

Auch in dieser Nacht konnte Jennifer nicht schlafen. Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Jan beschwerte sich, sie solle sich beruhigen. Ungehalten über die Seelenruhe mit der er sich schlafen legte, während sein Sohn einem ungewissen Schicksal ausgeliefert war, zog sie um in Louis Bett. So bekäme sie wenigstens sofort mit, wenn er endlich nach Hause kam.

Sie erwachte, als die Sonne grell ins Zimmer schien. Louis war nicht da, noch immer nicht. Nur die eigenartige Haarbürste, die sie auf den Teppich verfrachtet hatte, lag noch auf ihrem neuen Platz. Sie stand auf, um Jan zu wecken. Sie mussten etwas unternehmen ? irgendetwas.

Jan lag nicht mehr im Bett und war auch sonst nirgends aufzutreiben. Wie konnte er in so einer Situation ans Brötchen Holen denken? Auch wenn sie mit den Gedanken woanders war, deckte sie wie ferngesteuert den Küchentisch. Mittendrin lief sie zum Telefon und rief die Polizei an.
"Unser Sohn ist immer noch nicht aufgetaucht. Unternehmen Sie jetzt mal etwas?", fragte sie, als sie zu dem zuständigen Beamten durchgestellt worden war.
"Wir schicken gleich jemanden vorbei.", lautete die gleichmütige Antwort.
"Na toll.", stöhnte sie. "Die haben ja einen sicheren Job. Müssen sich nicht anstrengen."

Jan kam gar nicht vom Brötchen Holen zurück. Oder hatte er sich eigenmächtig auf die Suche nach Louis gemacht? Sie suchte die ganze Wohnung nach einer Notiz ab, überprüfte ihren Messengerdienst ? nichts.
Sie blickte auf das leere Bett. Da lag etwas auf Jans Hälfte. Ein Portemonnaie aus dunkelbraunem Leder. War ihm das aus der Tasche gefallen? Aber seit wann hatte er so eines? Er benutzte doch das weinrote, das sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Dieses hier hatte sie noch nie gesehen. Sie betrachtete es näher. Es war vollkommen leer, etwas abgewetzt und hatte exakt die Farbe von Jans dunkelbraunen Haaren.
Wurde sie verrückt? Oder träumte sie das alles? Konnte sie der Polizei von den seltsamen Gegenständen erzählen? Sicher nicht, sie würden sie für eine durchgeknallte, alternde Rothaarige halten, die gerade von Sohn und Mann verlassen worden war, weil sie es mit ihr nicht mehr aushielten.

Zwei Beamte kamen vorbei, stellten hunderte von Fragen, wunderten sich auch, dass Jan sich offenkundig auf die Suche nach seinem Sohn machte, ohne etwas zu sagen. Sie nahmen Louis Zimmer unter die Lupe, baten um ein Foto, forderten einen Spürhund an und ließen das Tier Witterung aufnehmen. Sie würden sich melden, sagten sie.

Der Sonntag zog sich endlos hin. Niemand meldete sich, auch Jan nicht. Was passierte hier? Sie hätte ihre Freundinnen anrufen können, um Beistand bitten, aber sie war wie gelähmt, wollte eigenartigerweise niemandem zur Last fallen, nicht für hysterisch gehalten werden, was auch immer.

Sie lief hin und her, wartete, trank literweise Kaffee, dachte daran, sich Zigaretten zu kaufen, obwohl sie schon seit dreißig Jahren nicht mehr rauchte, versuchte sich mit Fernsehen abzulenken, wischte das Wohnzimmerregal aus und entschloss sich, sich am nächsten Tag krank zu melden. Sie konnte in dieser Situation unmöglich zur Arbeit gehen.

Irgendwann fiel sie erschöpft ins Bett, noch bekleidet. Mitten in der Nacht wurde sie wach. Jemand stand an ihrem Bett. "Louis?", rief sie. "Jan?". Sie knipste die Leselampe an. Es war ein Unbekannter. Ein mittelgroßer Mann mit fahler Gesichtshaut und kalten, grauen Augen. In der linken Hand hielt er einen größeren Gegenstand, in der rechten eine Drahtschlinge. Den größeren Gegenstand stellte er auf ihrem Kopfkissen ab. Es war eine Kupferpfanne. Danach ging alles ganz schnell.

Am Dienstag erschien ein Presseartikel über das mysteriöse Verschwinden einer Familie. Freunden wäre im Haus nichts Außergewöhnliches aufgefallen, nur dass die jungen Katzen nicht da waren.

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Freitag, 22. Juli 2022
Blaulicht
"Was genau ist passiert?", fragt Kerkenbrock.
"Bis jetzt noch nichts.", erwidert Keller. "Es war die Rede von Geiselnahme von einem Unbekannten. Eine Frau hat die Zentrale angerufen, ziemlich aufgeregt, und erklärt, es sei ein Eindringling im Haus, der sie und ihren Mann festhalte, sie wisse nicht warum, aber er sei ziemlich bedrohlich. Maskiert, kräftig, offenbar mit Migrationshintergrund."
"Er hat sich also bis jetzt nicht zu seinen Motiven geäußert?"
"Offenbar nicht."
"Und die Verfassung der Geiseln?"
"Wir wissen nichts. Vermutlich grenzt es schon an ein Wunder, dass sie heimlich den Notruf absetzen konnte."
"Kann man nicht hineinsehen?"
"Schon, aber alle Räume scheinen leer zu sein. Nur der eine, dessen Fenster direkt auf den Hof weist, hat zugezogene Vorhänge. Vermutlich hat sich hier der Täter mit den Geiseln verbarrikadiert. Wir haben schon drei Lautsprecherdurchsagen gemacht, bekommen aber bisher überhaupt keine Reaktion."
"Keinen Laut?"
"Doch, Schreie. Möglicherweise foltert er seine Opfer. Aber wir diskutieren noch, wie wir da am besten hineingehen, denn wir wissen ja nicht, ob und wenn ja wie der Täter bewaffnet ist."

90 MINUTEN ZUVOR
"Mach mal das Licht aus, das ist mir zu grell."
"So ganz im Dunkeln? Na gut. Warte, ich muss noch eben den Wecker stellen."
Er angelt nach dem Reisewecker, stellt die Weckzeit und aktiviert den Alarm. Das Gerät leuchtet für kurze Zeit den gesamten Raum mit einem dezenten bläulichen Lichtschein aus.
"Guck mal.", kichert er. "Können wir bei Blaulicht vögeln."
Das Licht des Weckers erlischt.
"Wäre irgendwie geil, oder?", fragt sie. "Stell dir mal vor, so ein bis fünf Peterwagen vor der Tür, alle mit Blaulicht, das sanft durch die Vorhänge schimmert. Voll romantisch."
"Ja, dazu müsste es einen grausamen Verkehrsunfall direkt vor unserer Haustür geben, dann hätten wir das. Das wäre es mir aber nicht wert."
"Es gäbe noch eine Möglichkeit.", meint sie. Sie steht auf und geht zum Telefon. Wählt nur drei Ziffern: "Ja, Hallo?", flüstert sie in den Hörer. "Wir werden hier als Geiseln festgehalten, in unserem eigenen Haus..."

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