Dienstag, 19. September 2017
Lyrische Woche auf Kurzkrimi e.V. wird täglich aktualisiert
MORGENS GELESEN, ABENDS VERGESSEN – FREI NACH BERT BRECHT
Der, an den ich glaube
hat mir gesagt,
dass er mich nicht braucht.

Darum gebe ich auf,
Leichen pflastern meinen Weg
und ich wünsche von jedem Regentropfen,
dass er mich erschlagen möge.


FAST EIN ELFCHEN

Ruchlos
das Luder
wie die rumläuft
in ihrem kleinen Schwarzen
die Pfarrerin


PAARREIM

Sie fanden sich alle beim CVJM,
im Chor, bei der Jungschar und bei der Band.
Sie fuhren ans Meer, sie schliefen im Zelt,
sie eroberten einander und gemeinsam die Welt.

Tonja hat sich in Marco verliebt
und hat ihn am Ende tatsächlich gekriegt.
Luna war auch voll scharf auf ihn,
aber schließlich war alle Hoffnung dahin.

Luna mochte nur noch zu Boden blicken,
da kam Jasper vorbei, zum Reste ficken,
jetzt hat sie den kraftlosen Säufer am Hals
und wird vermutlich mit ihm alt.

Sören hat Jana schon dreimal verlassen,
irgendwann wird sein Bild wohl ganz verblassen
und Sina ist froh, dass er sie verschmähte,
als sie sich noch so sehr nach ihm sehnte.

Nur bei Karen und Jan lief gleich alles glatt,
ein Glück, das wirklich nicht jeder hat.
Doch so geht es denen im perfekten Leben,
irgendwann muss das Pech auch an ihnen kleben.

Und dann klebt es so sehr und geht nicht mehr ab
und Jan legt weinend die Karen ins Grab.
Tonja, Marco und Luna fragen warum
Jasper, Jana und Sina blicken nur stumm.

Sören ist nicht gekommen, das ist ein Skandal.
Nicht wegen Jana, der ist das egal.
Aber wegen der Freundschaft, die alle verband.
War er nicht sogar mit Karen verwandt?

Was niemandem auffällt und das ist fatal,
ist das Fehlen von Raimund, dem alten Schakal.
Es lief aus dem Ruder, niemand hat was gesehn.
Er putzt seine Harley und alles ist schön.



HEILIGES SONETT NR 2

Die Sonntagspredigt war so gut
so schön das Feierabendmahl
und auch der Chor phänomenal,
der Küster liegt in seinem Blut.

Die Kirchmeisterin so elegant
wie sie im engen Rock nach vorne schritt
auf den grazilen Pumps zum Altar glitt
ich hätt' sie beinah nicht erkannt.

Der Nagellack, der steht ihr gut.
Die Dame war zur Maniküre,
woher kommen denn die Allüren?
Der Küster liegt in seinem Blut.

„Ach Gott“, fragt da die Dame keck,
„Wer macht denn jetzt den Mist hier weg?“



PFARRKONFERRENZ IN ALPHABETHISCHER REIHENFOLGE

Der Benedikt ist ein Charmeur,
ein rechter real wo-men-ni-zer,
er macht den Weibern gern den Hof,
das findet Berti machmal doof.
Auch Bertis Marktwert liegt weit oben,
ist auch charakterlich zu loben.
Nie würd' er einem Menschen sagen,
an ihm sei vieles zu beklagen
und dass er ihn nicht aussteh'n kann.
Nicht mal Britgitte Linnemann.
Die kann das auch nicht, jedoch bei ihr
ist Angst, nicht Güte der Grund dafür.
Den Clemens fürchtet sie am meisten.
Das stört den nicht, der will nur beißen,
es gibt nur eins, wofür er brennt:
er wär gern Superintendent.
In Dagmars Träumen ist er der Geist,
der ihr stets zeigt, was Ekel heißt.
Den Detlev hat sie da schon lieber,
der hat den Eberhard auf dem Kieker,
denn dass der Dreck am Stecken hat,
das stinkt zum Himmel, in der Tat.
Eberhard kämpft um sein Renommée,
Dabei war es seine Idee,
die den Kirchenkreis zum Leuchten brachte,
doch auch Kollegen neidisch machte.
Der Eberhard nichts zu lachen hätt',
wär' da nicht die Elisabeth.
Die lacht ganz freundlich und merkt nicht viel,
als wär' der Kirchenkreis ein Spiel
und sie Prinzessin gute Fee.
Das tut dem Fred schon ziemlich weh.
Denn wenn er eines nicht erträgt,
ist das weibliche Naivität.
Obwohl er schon in Anspruch nimmt,
dass man ihm Respekt entgegenbringt,
denn schließlich ist er Theologe,
kein Prol, kein Honk, kein Pädagoge.
In dem Job, den der Gisbert macht,
hätte er auch mehr gebracht.
Doch weiß er, dass man ihn nicht wählt,
weil er kaum lächelt und nichts erzählt.
Gisbert kann das etwas besser,
ist aber auch ein großer Esser.
Das bringt ihm manchmal Häme ein,
er schweigt darob und wahrt den Schein.
Heiko macht ihm keinen Stress,
der sagt, was sein muss, schweigt zum Rest,
ist still und freundlich, stets, zu allen,
nur Jesko möcht' er eine knallen,
der quatscht nur selbstverliebten Mist
und geht dem Jochen auf den Rist.
Jochen hat auch nicht viel zu bieten,
allerdings mehr als solche Nieten
wie Norbert der sich weise wähnt
und quakt, bis Siemke leise gähnt,
Vielleicht kommt daher diese Miene
als ob ihr nie die Sonne schiene.
Vielleicht ist es auch Sigmars Fratze,
der käm' gerne auf die Matratze,
egal auf welche nun genau,
Hauptsache die von einer Frau.
Der Steffen kann nur müde lächeln,
hört noch die Konfirmandin hecheln,
die ihn sosehr bewunderte,
ach davon gab es hunderte.
Es war so leicht sie zu begeistern
er ließ sie Fenster farbig kleistern.
Fängt Steffen an, davon zu reden,
würd' Tanja sich gern übergeben.
Steffen hängt ihr zum Hals heraus,
Thea steckt ihm die Zunge raus.
Da muss sogar die Xenia schmunzeln,
viel zu selten, daher die Runzeln.
Und wenn schließlich der Abschied naht,
Im Namen dessen, der da sagt:
„Ich bin der Anfang und das Ende“
dann reichen alle sich die Hände.
Voll Wärme und geschwisterlich,
denken dabei „Ich ficke dich!“

HOLY SONETT No 1

A parson asked a confirmand
to fetch some books a young boy needs
he gave him lemonade and sweets
and finally a weird command.

The boy threw up the sweets he ate
his tears ran hot, his sweat was cold
his young-boy-legs were feeling old
His empty tummy full of hate.

The boy felt ridden like a horse
thoughts of revenge and feeling shame
finally he changed the game.
The parson was full of remorse.

No more commands, but charity:
A long deep sleep in eternity.


FREI NACH HEINRICH HEINE ;-)

Ein Mädchen liebt einen Pfarrer
der ist aber schon vergeben.
Das Mädchen schließt davor die Augen,
sie will ohne ihn nicht leben.

Die Pfarrfrau ist schön und beliebt,
gesegnet mit reizenden Söhnen.
Das Mädchen ist eher beleibt,
wofür sie stets alle verhöhnen.

Mit Yoga formte die Pfarrfrau
den Körper und pflegt ihre Zähne
gestaltet Keramik in blau,
das Mädchen schmiedet Pläne.

Am Ende haben alle verloren
eine Tote, ein Witwer, zwei Waisen,
ein Mädchen mit Wachs in den Ohren
will sich noch immer beweisen:

Er wäre schon längst mein Eigen,
hätt' ich mich klug angestellt.
Die Einsamkeit wird ihm zeigen:
er ist nur für mich auf der Welt.

Es ist eine blöde Geschichte,
so überflüssig und krank.
Sie wird immer seltener
und verschwindet, dem Himmel sei Dank.

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Freitag, 15. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 3. Enno
Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Die Gierigen hatten wieder gewonnen; sogar hier, in seinem geliebten Prag. Sogar die letzten Zufluchtsorte der Welt wurden von den fressenden, saufenden, rülpsenden, furzenden, ewig konsumierenden, alles zumüllenden, schnatternden, grölenden, achtlos alles platt trampelnden, erlebnishungrigen Vielreisenden überschwemmt. Sie wollten ja gar nicht in Prag sein. Sie wollten nur erzählen können, dass sie da waren und mit ihren Fotos prahlen. Fotos waren die Jagdtrophäen des 21. Jahrhunderts. Sie wollten berichten, was sie Phantastisches gegessen hatten, stolz ihre neuerworbenen Schmuckstücke herumzeigen und bewundert werden für ihre Weltläufigkeit. Sie kannten nicht den brennenden Schmerz in der Brust, der sich mit der Erkenntnis über die Erbarmungslosigkeit des Lebens ausbreitete. Sie atmeten die Luft dieses Ortes und bliesen sie wieder aus, ohne sich der Geschichte bewusst zu sein, die sie mitatmeten. Sie waren ahnungslose Parasiten, die sich gierig ausgerechnet vom Fleisch derer ernährten, die eigentlich in der Welt etwas hätten bewegen können. Die, die wirklich verstanden, wurden von ihnen selbst wie Parasiten behandelt. Weil sie an den Verhältnissen erkrankten und zerbrachen, empfand man sie als lästigen Ballast, den es zu entsorgen galt.
Auch wenn es ihn ärgerte, hatte er auf der Prager Burg anstandslos den Eintritt für das Goldgässchen bezahlt. Von irgendetwas mussten die Tschechen ja die Schäden, die der Massentourismus verursachte, bezahlen. Andächtig stand er vor dem Haus Nr. 22. Hier hatte Franz Kafka ein Jahr lang gelebt und gearbeitet. Er trat ein in das winzige Häuschen. Ein beeindruckender Ort. Der wohlhabende junge Mann hatte die großzügige, komfortable Familienwohnung verlassen, um sie gegen ein klammes, einfaches Zimmerchen ohne eigene Toilette einzutauschen. Er war ganz und gar eingetaucht in die Welt, aus der er seine Figuren erschuf.
Eine Frau ging vorbei, sein Körper sandte Warnsignale aus, doch er wusste nicht, warum.
Später, als er langsam den Abstieg antrat, war er noch immer ganz in Gedanken bei dem großen Kafka. Mit jedem Schritt, den er auf dem historischen Pflaster machte, wurde er ein bisschen mehr wie er, genauso mager, kränklich, voller Verzweiflung über den Lauf der Welt. Das Einzige, das seine Trauer von Zeit zu Zeit vertrieb, war die Musik. In einem kleinen Geschäft hatte er am Morgen einen Satz Saiten für seine Gitarre gekauft, sie würden ihn immer an Prag erinnern, wenn er sie zum Klingen brachte.
Unten, am Fuß des Hradschin wurde ein Kammerkonzert gegeben. Er erstand spontan eine Eintrittskarte und ließ sich zu den Klängen barocker Melodien aus seiner Depression tragen. Nahezu beschwingt verließ er nach einer Stunde die Kirche und schlenderte zur Karlsbrücke – am anderen Ende würde es besser werden.
Da war sie wieder, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Warum nur? Und warum nahm der Gedanke an Gregor Samsa immer mehr Raum in ihm ein? War Gregor am Ende nicht Kafkas Figur sondern Kafka selbst? Und dann wusste er es! Sie war es! Sie war Gregor Samsas Schwester, die den eigenen Bruder nicht verstand, sich vor ihm fürchtete und ihn am Ende einfach hatte stehen lassen. Sie ließ jeden stehen, der ihr fremd war, der ihr Angst machte, den sie nicht verstand. Er hatte sie nicht erkannt, weil sie sich verkleidet hatte als eine, die in der Masse unterging. Aber sie konnte sich vor ihm nicht verstecken, nicht vor Enno, nicht vor Franz, nicht vor Gregor. Er kannte sie. Was hatte sie vor? Unauffällig heftete er sich an ihre Fersen. Auf der Karlsbrücke war das kein Problem, bei den Massen, die sich noch immer hier entlang schoben. Er hätte sie beinahe aus den Augen verloren. Am anderen Ende bog sie rechts ab und ging längs der Moldau. Hier lichtete sich die Menschenmenge und er musste deutlich mehr Abstand halten. Sie steuerte auf das Nationaltheater zu, sie war also nicht auf dem Heimweg, das war eindeutig die falsche Richtung. Was führte sie im Schilde?
Am Theater angekommen, betrat sie die Brücke, die zur Insel führte. War das eine Falle? Er erinnerte sich noch gut an jeden einzelnen Spaziergang, den er hier unternommen hatte und an den tiefen Frieden, der sich dabei in ihm ausgebreitet hatte. Wollte sie das nun auch zerstören? Die innere Anspannung beschleunigte seinen Puls und seinen Atem. Er musste seine Schritte zügeln, denn sie schlenderte nur, kontinuierlich zwar, aber langsam. Sie wanderte die Insel der Länge nach ab. Dann setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete den Fluss. Er verbarg sich im Schatten eines Baumes. Wollte sie ihn anlocken, sich zu ihr zu setzen? Verlangte sie etwa Vergebung? Vergebung für ihre Nachlässigkeit, ihre Lieblosigkeit und ihre Illoyalität, die sie perfekt unter ihrer Maske der besorgten, hingebungsvollen und aufopferungsvollen Schwester verbarg? Reglos saß sie da und auch er rührte sich nicht vom Fleck. Er wagte es nicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie auf und ging auf das Flussufer zu. Wollte sie sich nun etwa selbst bestrafen? Doch sie ging nicht ins Wasser, nein, sie ging in die Hocke. Sie plante etwas. Er wusste nicht was, aber es war sicher nichts Gutes. Wie ferngesteuert glitt seine rechte Hand in die geräumige Tasche seiner sommerlichen Leinenhose. Da waren die Gitarrensaiten. Er musste sie aufhalten, sie bestrafen und verhindern, dass sie noch mehr Leben zerstörte und jetzt wusste er auch wie. Die tiefe E-Saite war am griffigsten, die glitt einem nicht so leicht durch die Finger. Er zog sie behutsam aus der Hülle und wickelte die Enden um seine Hände. Er ließ genug Platz dazwischen, damit sich der Draht einmal um ihren Hals wickeln und zuziehen ließ. Er hatte schon immer das perfekte Augenmaß gehabt. Er trat lautlos an sie heran. Es ging ganz leicht. Er drückte seine Knie gegen ihre Schultern, damit sie nicht umfiel. Sie versuchte die Saite von ihrem Hals zu lösen, das war natürlich zwecklos. Sie ruderte mit den Armen, versuchte, ihn hinter sich zu fassen zu kriegen, aber sie hatte kaum noch Kraft. Dann sackte sie in sich zusammen und Enno konnte deutlich spüren, wie das Leben aus ihr wich. Er, Gregor Samsa, Franz Kafka, Enno Horstmeier aus Höxter hatte sie endlich besiegt. Und die E-Saite würde mit dieser Patina voller klingen als je eine E-Saite zuvor.
ENDE

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Freitag, 8. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 2. Silvia
Endlich raus aus diesem widerwärtigen Zeltlager, weg von Rudel-Duschen, stinkenden Klos, Feldküche und Dauerbeschallung. Sie fühlte sich allmählich zu alt für diese Camps mit Hunderten von Jugendlichen. Und laut waren die TEN SINGer sowieso. Lauter aufgedrehte Jugendliche im Hier-ist-alles-so-toll-und-wir-lieben-uns-alle-und-wir-haben-eine-großartige-Zukunft-vor-uns-Fieber. Die meisten kamen ja zu Hause wieder auf den Teppich. Aber mindestens zehn Prozent setzten sich aus zutiefst verstörten Teenagern zusammen, die ihre ganze Lebenshoffnung in diese Jugendarbeit legten. Sie hielten ihr drittklassiges Bühnensolo am Rande Prags für ihre Eintrittskarte in die Welt des Ruhms, des Glamours und des Glücks. Silvia bereitete sich schon innerlich aufs Scherben Fegen vor. Spätestens im November war es soweit. Wenn man wieder vom Traumpartner übersehen wurde, der schulische Erfolg ausblieb und die Waage einen folterte oder der Spiegel oder beides.
Aber heute durfte sie sich eine Auszeit gönnen. Einen halben Tag lang – und eine Nacht. Das hatte sie ausgehandelt: die kommende Nacht durfte sie in einem Hotel verbringen und musste erst zum Morgenprogramm um 10.00 Uhr zurück sein.
Dreißig Jahre war es her, dass sie die goldene Stadt zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war es – abgesehen vom Dach des Nationaltheaters an der Moldau – eher eine graue Stadt gewesen, aber sie hatte sie geliebt. Über allem hatte diese feine Melancholie gelegen, keine rasenden Autos, kein Massentourismus, alles war gnadenlos billig gewesen und die staubigen, grauen Fassaden, die zum Teil von maroden, hölzernen Baugerüsten verdeckt gewesen waren, hatten ihren einstigen Glanz erahnen lassen, was ihnen gerade diesen geheimnisvollen Charme verliehen hatte. Das Besondere hatte man entdecken müssen: das Schwarzlicht-Theater, Kammerkonzerte in barocken Kirchen, das jüdische Museum, das Goldgässchen auf dem Hradschin, die deutsche Buchhandlung, die urigen Kneipen und pittoresken Ecken am Flussufer. Damals hatte sie sich mit Tränen in den Augen geschworen, eines Tages zurückzukehren. Als Achtzehnjährige hatte sie davon geträumt, in Prag zu studieren. Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung gehabt, aber die Bilder in ihrem Kopf hatten ihr gefallen.
Mit Bus und Bahn fuhr sie zu ihrem Hotel in der Nähe der Innenstadt. Sie war überrascht von diesem völlig veränderten Stadtbild: liebevoll instandgesetzte Fassaden und aufwändig gepflasterte Gehwege, alle Farben des Regenbogens, Straßencafés und überall Menschen, wie sie auch in London, Paris oder Berlin herumliefen: bunt, individuell und stilbewusst. Vom ehemaligen Ostcharme war nichts geblieben. Einerseits gefiel es ihr, dass das Beklemmende, Depressive, Düstere und Farblose von einer solch ästhetischen und quirligen Lebendigkeit abgelöst worden war. Aber als sie mit der Tram in die Innenstadt fuhr, tat es ihr irgendwie weh, dass Prag sich nun kaum noch von all den westeuropäischen Hauptstädten unterschied. Sie stieg aus und schlenderte durch das Altstadtviertel rund um die Theinkirche. Überall war es hübsch und blitzsauber, aber aus allen Schaufenstern brüllte einem der gleiche Ramsch entgegen: böhmisches Glas, Matruschkas, Schnaps, Bier, Karlsbader Oblaten und als Kunst dargebotener Kitsch. Sie würde in Richtung Moldau flüchten, das war sicher noch ein magischer Ort.
Als sie das Tor der Karlsbrücke erblickte, schlug ihr Herz höher. Sie erinnerte sich dunkel an die gespenstischen Skulpturen, die das Brückengeländer säumten. Doch was hier los war, kannte sie so bisher nur von der Ponte Vecchio in Florenz: ein einziges Geschiebe und Gedränge vorbei an Verkaufsständen mit Schmuck, Malerei und Nippes. Reisegruppen verschiedenster Nationalitäten, die den Fähnchen ihres Führers folgten. Zuerst hatten die Deutschen Prag besetzt, dann waren die Panzer der Russen durch die Straßen gerollt und jetzt die Lawine des internationalen Tourismus. Auch wenn es ihr nicht gefiel – sie war ein Teil davon.
Trotz der Massen wanderte sie rauf zur Prager Burg, löste ein Ticket und betrat das Goldgässchen, das durch den Massentourismus auch viel von seinem Charme eingebüßt hatte. Sie hatte Hunger, aber hier oben gab es überall nur industriell gefertigte Mikrowellen-Sandwiches und so hielt sie noch eine ganze Weile durch und plante einen Imbiss nach dem Abstieg. Kurz vor der Karlsbrücke nahm sie Platz in einem der zahlreichen Touristen-Restaurants und verspeiste in Erinnerung an ihren Aufenthalt vor dreißig Jahren die böhmische Spezialität schlechthin: Gulasch mit Hefe-Knödeln und Rotkohl. Eigentlich etwas für kalte Tage, aber das Essen war so köstlich wie damals und sie bereute nicht, in einem Lokal Platz genommen zu haben, in dem vermutlich keine Einheimischen aßen.
Frisch gestärkt machte sie sich auf zu ihrem nächsten Ziel, sie wollte noch einmal vor dem prachtvollen Bau des Nationaltheaters stehen. Man sah die schwarz-goldene Kuppel mit der eigentümlichen Form von nahezu jedem Punkt der Innenstadt. Bei der Abschlussfahrt der Jahrgangsstufe 13 hatte ihnen dies als Orientierung gedient, hatte sich doch die Tram-Station, von wo sie damals zurück ins Hotel gefahren waren, ganz in der Nähe befunden. Die Schönheit des Theaters war ungebrochen. Aber heute zog sie nichts mehr in die Straßen, in denen sie damals von Kneipe zu Kneipe geschlendert waren, um sich mit dem leichten, aber würzigen Schwarzbier vollzukübeln. Sie selbst hatte sich nicht betrunken, aber etliche hatten damals den Bogen überspannt und waren an Peinlichkeit nicht zu übertreffen gewesen. Sie schlug die andere Richtung ein. Gegenüber des Nationaltheaters führte eine Brücke über die durch Stauwehre träge dahin strömende Moldau. In der Mitte des Flusses lag eine Insel und die war ihr Ziel. Damals hatte das Herbstlaub gelb geleuchtet, heute war alles grün und zu den Bäumen und Bänken hatten sich Spielplätze gesellt. Aber als sie die Wege entlang schlenderte, sah sie ihren Mitschüler Horsti vor sich. Horsti hatten sie ihn seines Nachnamens wegen genannt: Horstmeier. Sie hatte tatsächlich seinen Vornamen vergessen. Sie hatten sich über ihn lustig gemacht. Horsti war ein Intellektueller, ein Büchernerd, der eine Eins in Philosophie und Literatur hatte, eine Nickelbrille trug und sich betont unmodern kleidete. Er lebte das Klischee des einsamen Dichters und Denkers, von allen unverstanden, wo er doch selbst längst verstanden hatte, was die bürgerlichen Biertrinker hinter ihren Schlachthoffassaden niemals begreifen würden. In Prag war er auf den Spuren Kafkas gewandelt, hatte einen Koffer voller Bücher erstanden und man hatte ihm bei seinem Spaziergang auf der Moldauinsel deutlich angesehen, dass er in seiner Vorstellung selbst zu Kafka wurde und mit jedem Schritt den Fuß bewusst auf den Boden setzte, auf dem schon sein großes Vorbild die gleichen düsteren Gedanken spazieren geführt hatte.
Sie nahm auf einer der Bänke an der Spitze der Insel Platz und blickte hinüber zu den Lichtern der Prager Burg. Nachts sah alles so unversehrt aus. Sie dachte an Ralf, in den sie damals so verliebt gewesen war, der sie kaum eines Blickes gewürdigt hatte und schließlich mit Anja im Hotelzimmer rumgeknutscht hatte. Sie dachte an Heike und Martina, mit denen sie hier auf Entdeckungsreise gegangen war. Sie hatte seit mehr als zehn Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Die Menschen in ihrem Leben kamen und gingen und man wusste erst viele Jahre später, welche Rolle sie eigentlich gespielt hatten.
Sie erhob sich und ging ans Wasser. Einmal die Finger in die Moldau halten, einen Stein finden, ein Andenken, eine Verbindung zwischen damals, heute und morgen. Sie kniete vor dem gluckernden Wasser und suchte den nahen Grund nach Steinen ab, als sie plötzlich etwas drückte. Ihr Hals zog sich zu, sie bekam keine Luft, jemand drückte seine spitzen Knie in ihre Schulterblätter. Abwechselnd ruderte sie mit den Armen und versuchte, ihre Finger hinter das zu klemmen, das ihr die Kehle zuschnürte, sie hörte ihren eigenen Herzschlag, das Blut rauschte in ihren Ohren, der Kopf wurde heiß, die Lichter, die der Fluss reflektierte, funkelten von den Wellen, welchen Wellen? Und dann erloschen sie auch schon.
ENDE TEIL II – FORTSETZUNG FOLGT AM 15.09.

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Freitag, 1. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 1. PAVEL
Schon wieder hatten sie ihn um fünf Uhr morgens aus dem Bett geklingelt. Die Jogger, die die Leichen fanden, waren auch immer früher auf den Beinen. Der einzige Vorteil eines Einsatzes kurz nach Sonnenaufgang bestand darin, dass die Stadt so wirkte, als habe sie sich seit seiner Kindheit kaum verändert: Nur wenige Autos kurvten durch die Straßen, die Touristen, die die tschechische Hauptstadt in jedem Jahr mehr belagerten, begafften, knipsten, vollschissen und vollkotzten, lagen noch in den Betten ihrer Hotels oder in ehemals erschwinglichen Innenstadtwohnungen, die sich heute kein Tscheche mehr leisten konnte, es sei denn, er war dick im Geschäft.
Die Tret- und Ruderboote lagen fest vertäut an den Stegen, über der Moldau waberten gespenstische Frühnebelbänke, erste Vorzeichen des nahen Herbstes, die den Blick auf die Insel verschleierten, auf der das Opfer schon auf ihn wartete. Hoch über dem Fluss thronte der Hradschin, die Prager Burg, unterhalb stachen die zahlreichen Turmspitzen, die die Tore zur Karlsbrücke krönten, wie mahnende Zeigefinger von Boten einer längst vergessenen Welt in den Himmel. Diese märchenhafte Stadt hatte den sowjet-imperialistischen Sozialismus überlebt, sie würde auch die massentouristischen Auswüchse des Turbo-Kapitalismus überstehen. Wer wusste schon, wo die Gierigen in zwanzig Jahren einfielen? Südafrika? Island? Vielleicht sogar Afghanistan? Die Krisenherde von gestern wurden schnell zu den Urlaubszielen von morgen und umgekehrt.
Pavel stieg die Treppen von der Brücke zur Insel hinab. Er hätte auch den Fahrstuhl nehmen können, aber er hatte die altehrwürdigen Stufen gern. Unten angekommen musste er die Parkwege fast der Länge nach abschreiten, denn die Leiche lag an der Spitze der Insel, von wo man einen atemberaubenden Blick auf alle beeindruckenden Gebäude der Stadt hatte.
Es hatte etwas Vulgäres, wie sie dalag, mit den von der Feuchtigkeit strähnigen Haaren, den aufgerissenen, glotzenden Augen und dem nachlässig gekleideten, dahinwelkenden Körper, der weniger an verblühte Schönheit als an jahrzehntelange Mühsal in unüberwindlicher Mittelmäßigkeit denken ließ. Wenigstens ein spektakuläres Ende war der welken Blume vergönnt, die ihren Platz am Rande der Mauer sicher niemals verlassen hatte. Nun lag sie hier in durchnässten Khaki-Cargohosen in 3/4-Länge, schwarzen Trekking-Sandalen und einem verblichenen T-Shirt. Die feine, rote Linie an ihrem Hals verriet in Verbindung mit den hervortretenden Augäpfeln auch einem medizinischen Laien die Todesursache: sie war garrottiert worden.
„Raubüberfall?“, fragte Pavel die Kollegen von der Spurensicherung.
„Unwahrscheinlich.“, erwiderte Oskar. „Im Portemonnaie stecken noch hundertachtzig Kronen und fünfzig Euro.“
„Ausländerin?“, fragte Pavel.
„Deutsche. Geboren 1969 in Höxter.“
„Wo liegt das denn?“
Oskar zuckte mit den Schultern.

Gründliche Recherchen ihres Tascheninhaltes ergaben, mit wem sie in Prag war. Und dort wartete komplizierte Ermittlungsarbeit auf sie.

FORTSETZUNG FOLGT AM 8.9.

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