Freitag, 24. Februar 2017
Anja in der Pfütze
Ausgerechnet heute beschlich Sidem beim Betreten des JuZi ein komisches Gefühl, dabei waren sie doch in der letzten Woche mit Anja in der Moschee gewesen und ihre Eltern waren seitdem weniger verschnupft, als sie sich zu Hause verabschiedete, um das evangelische Jugendzentrum zu besuchen. Was die auch immer hatten. Hier ging es eigentlich nie um Religion, höchstens mal zu Weihnachten oder zu Ostern, aber da wurde eigentlich auch nur gebastelt oder es gab ein paar Spiele und etwas Besonderes zu essen. Dass auch Karneval und Halloween im weitesten Sinne etwas mit Religion zu tun hatte, war Sidem nicht bewusst.
Die Tür zum Büro stand offen. Es war so merkwürdig still. Warum lag Anja auf der Erde? War sie ausgerutscht, als sie den roten Saft aufwischen wollte? Woher kam der Saft überhaupt? Was hatte der im Büro zu suchen?
Plötzlich spürte sie, dass jemand hinter ihr stand. Sidem drehte sich um und blickte in das Gesicht von Annalenas Mutter. Die war auch ganz still und sie guckte so komisch. Dann flüsterte sie zischend:„Was hast du gemacht?“
Sidem war verwirrt. Was sollte sie schon gemacht haben? Anja lag immer noch da und da war auch kein Lappen. Sie hatte gar nicht versucht, den Saft aufzuwischen, sie war einfach ausgerutscht und jetzt war sie ohnmächtig.
„Ich habe Anja zuerst gefunden.“, antwortete Sidem völlig sinnlos auf die Frage der deutschstämmigen Mutter. Sie sah in deren Augen Angst, Hass und Feindseligkeit, aber sie konnte diesen Blick nicht einordnen, verstand nicht, was sie da sah.
„Womit hast du zugeschlagen?“, fragte die Mutter kalt und hart, während sie ihre Tochter immer wieder hinter sich schubste, damit Annalena Anja nicht sehen konnte. Warum machte Annalenas Mutter das? Sidem hatte mit gar nichts zugeschlagen. Was sollte diese Frage?
„Jetzt schicken die vom IS schon Kinder los für ihre Terroranschläge.“, schimpfte die deutsche Mutter und zückte ihr Mobiltelefon. Sie wischte und tippte darauf herum, dann hielt sie es an ihr Ohr.
„Ja, ich rufe aus B. an. Goebel mein Name. Ich bin hier im JuZi der Lukasgemeinde. Im Büro liegt die Leiterin der Mädchengruppe. Die hat jemand niedergeschlagen.“....
„Also sie rührt sich überhaupt nicht. Sie können ja einen Rettungswagen schicken, aber ich glaube, na ja...“...
„So genau kann ich Ihnen nicht antworten. Hier sind Kinder und gleich kommen noch mehr.“...
„Ja ist gut. Eigentlich muss ich heute eine Menge erledigen, aber unter diesen besonderen Umständen meinetwegen.“
Frau Goebel nahm die Kinder in Empfang. Waren die Eltern dabei, schickte sie sie sofort zurück. Sidem behielt sie im Auge. Die würde sie der Polizei übergeben.
Die Polizisten waren ungehalten, dass Frau Goebel nicht erwähnt hatte, dass ein Kind die Leiche gefunden hatte. Jetzt mussten sie zusätzliches Fachpersonal anfordern, das kostete unnötig Zeit und die Verzögerung tat auch dem Kind nicht gut.
Frau Goebel raunte dem Kriminalhauptkommissar ihren Verdacht zu. Der sah sie voller Ekel an. Sie dachte, der angewiderte Blick gelte dem Mädchen und kam gar nicht darauf, dass sie selbst der Gegenstand des Unbehagens war.
Es dauerte mehrere Tage, bis der Täter gefasst war. Er hatte aus Hass gehandelt. Es war tatsächlich ein religiöser Fanatiker. Er konnte nicht dulden, dass muslimische Kinder ein christliches Jugendzentrum aufsuchten. Als die gewissenlose Sozialarbeiterin dann die christlichen Kinder in die Moschee geschleppt hatte, war das Maß für ihn voll gewesen. Er hatte für seinen Glauben getötet. Nicht für 72 Jungfrauen, sondern für den Triumph der deutschen Leitkultur.
Sidem durfte nie wieder das JuZi besuchen. Und Frau Goebel traute ihr nach wie vor nicht über den Weg. Nur die Mädchen betrauerten Anja. Die Evangelischen, genauso wie die Muslimischen und die Konfessionslosen.

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Freitag, 17. Februar 2017
Pest oder Cholera
Milchig weiß quält sich die Sonne durch die dunstige Suppe des Novembernebels. Wie gern hätte Andrea sich heute morgen im Bett noch einmal umgedreht, sich gegen elf zuerst in die Badewanne und dann mit Milchkaffee und Schnittchen aufs Sofa gelümmelt, gelesen und gelegentlich aus dem Fenster gelinst. Statt dessen hat sie um sieben der Wecker aus den Träumen gerissen, ein Gefühl, als sei es mitten in der Nacht, schließlich war es noch dunkel draußen und die Dusche war nicht richtig heiß geworden. Ein schneller Kaffee, ein bisschen Müsli, die Autoscheiben freikratzen und dann frierend ins Kreishaus fahren, wo schon abgestandener Filterkaffee, lauwarmer Tee mit Schlieren, staubiges Fabrikgebäck und Remouladenschnittchen auf sie warten. Und erst die Kollegen, die lieben Brüder und Schwestern und die naiven Ehrenamtlichen, die heute antreten, um sich zwischen Pest und Cholera zu entscheiden.
Es ist Wintersynode, eine Legislaturperiode beendet, der alte Sup geht in den Ruhestand und für die Nachfolge haben sich nicht viele beworben. Warum auch? Wer reißt sich schon um die Verantwortung, für ein paar Kröten mehr auf dem Konto? Verprassen kann man die ohnehin nicht, denn während dessen hat man keine Zeit dazu und hinterher ist man so verbraucht, dass alles für Gesundheitsleistungen draufgeht. Aus Andreas Sicht sind es immer die Seltsamen, die sich um ein solches Amt bewerben: die Machthungrigen, die Selbstaufopferer, die Geltungsbedürftigen oder, wenn es ein absoluter Glücksfall ist, die Genies, die das alles aus dem Ärmel schütteln können und einfach überredet worden sind. Aber in diesem Jahr gibt es kein Genie. Da ist nur Pest: Roland Sackheim, einfältig, aber vielfältig manipulierbar, ein gefundenes Fressen für die Strippenzieher im Hintergrund, einer der den Kirchenkreis garantiert vor die Wand fahren wird und diejenigen, die davon profitieren, können dies in aller Stille und ohne drohende Konsequenzen tun.
Und dann ist da Cholera: Detlev Sundermann, gestaltungswillig, eloquent, hartnäckig. Er ist nicht nur ambitionierter Gemeindepfarrer, sondern auch ein leistungsstarker Freizeitsportler und Rotarier.
Auf dem Weg zu einem Sitzplatz fühlt Andrea sich, als würde sie sich durch Schlamm bewegen, durch eine Masse unförmiger, nachlässig gekleideter, unfrisierter Menschen. Dabei ist sie selbst keine Styling-Queen und auch kein Bodyshaping-Vorbild. Aber für einen wohlwollenden Blick fehlt ihr heute Morgen die manische Energie, die sie in ihren Beruf getrieben hat. Sie nimmt an einem der langen Tische Platz, die in ihrer Anordnung an die Speisesäle englischer Eliteschulen erinnern oder an die große Halle in Hogwarts aus den Harry-Potter-Filmen.
Singen, Beten, Tagesordnung abarbeiten, Mittagsimbiss, Smalltalk, Mundwinkel einfrieren, damit das Lächeln nicht verrutscht, durchhalten, durchhalten, durchhalten.
Dann kommt es zur Wahl. Andrea kann nicht wählen. Sie will sich weder am Ruin des Kirchenkreises schuldig machen, noch an seiner Verwandlung in eine totalitäre Vorhölle. Sie könnte schließlich hinterher kaum behaupten, sie habe das alles nicht gewusst. Sie weiß mehr, als ihr lieb ist. Sie enthält sich.
Auszählung. Spannung. Resignation. Es ist ja egal, ob nun Pest oder Cholera obsiegt. Dann das Ergebnis: Unentschieden. Ein Stöhnen geht durch die Reihen. Noch mindestens eine weitere Stunde Lebenszeitverschwendung. Eine halbe Stunde Pause bis zum zweiten Wahlgang. Geschäftiges Treiben bei den einen, gähnende Langeweile bei den anderen. Zigaretten vor der Tür.Toilettengänge. Brennende Mägen vom fünften lauwarmem Kaffee und zu viel Weißbrot mit Remoulade und Essig-Gürkchen. Und dann dieser markerschütternde Schrei. Andrea denkt augenblicklich an ein durchgebrochenes Magengeschwür. Dann sieht sie den Menschenauflauf vor der Herrentoilette. Alle reden aufgeregt durcheinander. Schließlich kommt ihr Henning entgegen. Leichenblass ist er, ihre Blicke treffen sich. „Was ist los?“, Flüstert sie.
„Sackheim wurde eben tot aufgefunden.“, antwortet Henning erschüttert. „Was?“, fragt Andrea ungläubig und Henning fährt fort: „Er liegt mit offener Hose vor dem Pissoir. Offensichtlich hat man ihn mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen, denn er hat eine frische Kopfwunde. Besonders merkwürdig ist, dass man ihm auch das Jackett ausgezogen und den Hemdsärmel aufgekrempelt hat. Ich hab ihn mir genauer angesehen, ich hab ihn ja gefunden. Da war ein roter Punkt in der Ellenbeuge. Ich denke, dem hat jemand etwas injiziert. Bernhard alarmiert gerade die Polizei.“
Alle rennen durcheinander. Andrea schämt sich, denn gleich nach dem ersten Schreck denkt sie: „Mist, das dauert jetzt sicher noch Stunden hier und wir müssen bei Junkfood und Magen reizendem Filterkaffee ausharren, dabei hätte ich wenigstens den frühen Abend noch entspannt im Wohnzimmer verbracht. - Aber wie bin ich eigentlich drauf? Ein Kollege wird ermordet und ich betrauere meinen verspäteten Feierabend. Gut dass keiner in meinen Kopf sehen kann.“
Die Polizei ist noch nicht eingetroffen. Andrea geht in den ersten Stock, denn dort gibt es eine Sitzgruppe mit gepolsterten Sesseln, eine Wartezone für den Publikumsverkehr. Hier oben ist es viel ruhiger, fast schon gespenstisch still. Am Ende des Flures irritiert ein dunkler Fleck. Andrea hat nicht den Hauch einer Idee, worum es sich handeln könnte. Hat da jemand seine Handtasche verloren? Sie geht darauf zu. Als sie fast angekommen ist, erkennt sie einen Herrenschuh, in dem ein Fuß steckt. Sie blickt um die Ecke und jetzt ist sie diejenige, deren Brust panische Laute entweichen, aber keine spitzen Schrei, eher ein Würgen, dann ein Brüllen, dann haltloses Schluchzen. Sundermann liegt seltsam verrenkt auf dem Rücken, in seiner Brust steckt ein martialischer Dreizack. Andrea muss sich erst wieder fangen, bevor sie in der Lage ist, ins Erdgeschoss zu laufen und Alarm zu schlagen. Sie läuft Godehard Mertens ins die Arme. Ausgerechnet diese schmierige Ratte. Sie kann kaum sprechen, stottert nur: „Sundermann...tot...“ und weist nach oben. Mertens fasst sie an den Ellbogen: „Zeigen Sie mir, wo er ist.“ Widerwillig führt sie Mertens zu ihrem grausigen Fund. Mertens wird leichenblass. So hat sie ihn noch nie gesehen, noch nie die nackte Angst in seinen sonst so eiskalten Augen bemerkt. Aber Mertens starrt nicht auf den toten Kollegen. Mertens starrt auf den Dreizack. Eine unkontrollierbare Assoziationskette schießt Andrea durch den Kopf: Dreizack – Teufelswaffe – Satanismus-Symbol – Geheimlogen – Sundermann – Rotary - Mertens. Ja Mertens ist ebenfalls Rotarier, das hat sie vor längerer Zeit in der Zeitung gelesen. Ist er der Nächste? Oder ist Sundermann übers Ziel hinaus geschossen und Mertens versteht die Botschaft, weil er zum inner Circle gehört? Andrea will es gar nicht wissen. Sie will nur weg hier, setzt einen Fuß vor den anderen, bis sie endlich die rettende Treppe erreicht hat. Als sie hinabsteigt denkt sie: „Alle beide weg. Pest und Cholera besiegt.“ Und diesmal schämt sie sich kein bisschen. „Und was kommt jetzt? Der stylische, selbstverliebte faule Egomane Rüdiger Wolf oder die total chaotische sich selbst aufopfernde und sich ständig verzettelnde Gutfrau Adriana Bulthaup-Meierjohann? Wir haben die Wahl. Die Wahl zwischen AIDS und Ebola.“

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Donnerstag, 16. Februar 2017
Gelegenheit zum Ruhm nicht verpassen!
Liebe Leserinnen und Leser!
Ich lechze nach mehr Geschichten zu meinem letzten Beitrag. Werdet kreativ! Die Veröffentlichung als E-book ist kein leeres Versprechen. Die Beiträge 2016 finden sich auch in dem E-book "Kirche im Dunkeln", könnt Ihr googeln. Also nur Mut!
Eure Cristina Fabry

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Freitag, 10. Februar 2017
Aufforderung zur Fanfiction
Liebe Leserinnen und Leser. Mit dem folgenden Text liegt eine gekürzte Fassung eines Kapitels aus meinem Roman „Brauseflocken – totes Kind, liebes Kind“ vor. Lasst Eurer Phantasie freien Lauf. Eine der beschriebenen Personen wird 33 Jahre später zum Mörder / zur Mörderin. Fragt Euch wer, wen er oder sie tötet, wie er oder sie das tut und was ihn oder sie dazu treibt. Und dann schreibt eine Fortsetzung unter der Überschrift: Mai 2016.
Auch wenn Ihr das Buch schon gelesen habt, braucht Ihr ja nicht das Ende verraten, sondern könnt Euch eine eigene Story ausdenken. Ich freue mich auf hoffentlich viele Versionen. Falls Ihr nicht wünscht, dass Euer Text später unter Eurem Blogger-Namen in einem E-book erscheint, solltet Ihr das ausdrücklich vermerken; ansonsten gehe ich davon aus, dass Ihr einverstanden seid. - Eure Cristina Fabry
Und jetzt Vorhang auf für den 1. Aufzug!

JANUAR 1983
Der Januar 1983 war so schmuddelig, als sei noch November. Die Feuchtigkeit war mehr als unangenehm, drang sie doch durch jede Faser, aber die milden Temperaturen und die weitestgehende Windstille machten den Pilotversuch der Evangelischen Jugend Holzhausen II-Nordhemmern, die ausrangierten Weihnachtsbäume einzusammeln und zu den zentralen Sammelplätzen zu schaffen, auf jeden Fall möglich. Samstags trafen sich zwölf junge Leute am Holzhauser Gemeindehaus, wo Pastor Becker schon auf dem tuckernden Traktor wartete. Die Stimmung war ausgezeichnet; alle waren warm eingepackt und voller Tatendrang.
Die Jugendlichen kletterten auf den Hänger und setzten sich auf die Ladefläche. Ein paar besonders Verwegene – darunter auch Petra – blieben einfach stehen und hielten die Balance wie auf einem Surfbrett.
Es wurde viel gelacht, und Rainer beschwerte sich, dass es nicht einmal einen anständigen Schnaps zum Aufwärmen gab. Das war allerdings auch einer der Augenblicke, in denen Iris sich fragte, ob der bis zur Besinnungslosigkeit praktizierte Alkoholkonsum jetzt etwa auch von der kirchlichen Jugendarbeit Besitz ergriff. Sie war die Einzige, die an diesem Vormittag überhaupt keine gute Laune verbreitete. Mit Cornelia und Petra hatte sie zwar mittlerweile wieder Frieden geschlossen, dafür litt sie nach wie vor unter dem demonstrativen Gegiggel, das Nicole mit Rainer und Markus veranstaltete. Außerdem gingen ihr Lydias um Niveau bemühten Witze auf die Nerven, die tatsächlich weder besonders geistreich noch ansatzweise lustig waren.
Nach mehreren Stunden ging es im Turbotempo zurück zum Holzhauser Gemeindehaus, wo Pastor Becker ganz pragmatisch Teams einteilte, um den Imbiss vorzubereiten. Innerhalb kürzester Zeit saßen die Jugendlichen mit dem Pfarrer am gedeckten Tisch und schlugen sich den Bauch mit Industrie-Nahrung voll.
„Guckt mal.“, sagte Pastor Becker. „Wie beim letzten Abendmahl, ein Hirte, zwölf Jünger.“
„Ist das nicht 'n bisschen anmaßend, sich mit Jesus zu vergleichen?“, fragte Lydia mit der gebotenen Herablassung.
„Aber nein, liebe Lydia“, erklärte der Pfarrer im gönnerhaften Tonfall einer liebenswerten, einfältigen Kindergartentante, „wir sollen unser Verhalten täglich mit Jesus vergleichen und so prüfen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.“
„Aber ist das Abendmahl nicht ein Sakrament, über das man keine Witze machen darf?“
„Da hast du natürlich Recht, aber wenn du etwas konzentrierter zugehört hättest, wäre dir sicherlich aufgefallen, dass ich lediglich die Übereinstimmung in der Anzahl der Speisenden und der Rollenverteilung am Tisch festgestellt habe. Als Gemeindepfarrer habe ich die Aufgabe, euch wie Schafe auf den richtigen Weg zu leiten, so wie Jesus das mit seinen Jüngern gemacht hat. Ich sehe das keineswegs als Witz. Und nun guten Appetit und danke euch allen, dass ihr so fleißig mit zugepackt habt.“
Damit hatte er Lydia erfolgreich ausgeknockt, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann sie sich zur nächsten nervenaufreibenden Rebellion erheben würde.
Nicole war selig an diesem Tag. Auf dem Wagen hatte sie mit Markus und Rainer Hand in Hand gearbeitet, und sie hatten die ganze Zeit Witze gerissen. Jetzt saß sie erschöpft, aber zufrieden und durchgewärmt vom heißen Kaffee an der Längsseite der Tafel, Markus zu ihrer Linken, Rainer zu ihrer Rechten. Während des Disputs zwischen Pastor Becker und Lydia Meyer hatten sie sich gegenseitig angerempelt und verschmitzte Blicke zugeworfen.
„Willst du noch 'ne Wurst, Nicole?“, fragte Markus in einem Anflug von Galanterie.
„Ein Würstchen würde schon reichen.“, antwortete sie keck und streckte Markus ihren Teller hin.
„Noch etwas Ketchup?“, fragte Rainer, und prompt schenkte sie auch ihm ihr jüngst einstudiertes Marilyn-Monroe-Lächeln. Sie fühlte sich stark, unwiderstehlich und unbesiegbar, und zumindest an diesem Tag gelang es ihr, die beiden Jungen an ihrer Seite mit ihrer Persönlichkeit zu begeistern.
Cornelia und Petra hatten sich die Pole-Position gesichert, von der aus sie alles lückenlos überwachen konnten: sie teilten sich ein Kopfende, blickten direkt in die Gesichter von Pastor Becker und Mario Rathert aus Holzhausen. Zu ihrer Rechten konnten sie Nicoles Stereo-Flirt und Lydias Repertoire an stetig wechselnden Schmoll-Mienen beobachten; zu ihrer Linken saßen Imke Hüttemann, Jörg Rohlfing und Birgit Heitkamp aus der alten Grundschulklasse, sowie Iris und Angela. Pastor Becker war pausenlos damit beschäftigt, Angela mit Würstchen und Kartoffelsalat, sowie Senf und Kaffee zu versorgen, das war wohl der Anlass gewesen, aus dem Markus und Rainer sich so ritterlich um Nicole bemüht hatten, sie hatten den Pfarrer parodiert. Aufgefallen war das aber nur Petra und Cornelia.
„Guck mal, jetzt flüstert er ihr schon wieder was zu.“, wisperte Cornelia Petra ins Ohr, während sie Angela und den Pfarrer, die direkt über Eck saßen, nicht aus den Augen ließ.
„Angela hat schon voll die rote Rübe.“, flüsterte Petra zurück. „Pass auf, gleich lässt sie vor Aufregung die Gabel fallen.“
„Was da wohl gerade unterm Tisch passiert?“, mutmaßte Cornelia.
„So genau will ich das gar nicht wissen.“, entgegnete Petra.
„Aber ich.“, raunte Cornelia, ließ mit gespielter Ungeschicklichkeit ihre Gabel unter den Tisch fallen, um dann beim wieder Aufsammeln die Stellungen der einzelnen Körperteile unterhalb der Tischplatte zueinander mit einem kurzen, photographischen Blick zu erfassen. Sie musste ihr impulsives, hysterisches Kichern in einem vorgetäuschten Hustenanfall tarnen.
„Was ist los, Cornelia?“, rief der Pfarrer über den Tisch. „Wolltest du die Krümel, die vom Tisch des Herrn abfallen nicht umkommen lassen und hast dich daran verschluckt?“
Cornelia errötete und hustete zur Tarnung noch etwas weiter, bis sie schließlich behauptete: „Ich hab' mich beim Bücken nach meiner runter gefallenen Gabel an 'nem Stück Toastbrot verschluckt. Geht aber wieder.“
„Was war denn?“, raunte Petra, als sie und ihre Freundin das Rampenlicht der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Anwesenden wieder verlassen hatten.
„Angelas Fußspitze ist nach außen gedreht und zeigt voll auf den Packer, und er streckt seine Füße auch immer weiter aus, mittlerweile berühren sie sich bestimmt.“
Ein Kichern unterbrach Cornelias Bericht, bevor sie fortfuhr: „Und Nicole und ihre beiden Verehrer haben alle drei die Beine so breit gemacht, dass ihre Knie kuscheln können. Also unterm Tisch läuft hier voll der Softporno: Oben Bibelkreis, unten Schulmädchenreport.“
„Das guck' ich mir auf keinen Fall an.“, entgegnete Petra. „Nachher muss ich noch Kotzen. Glaubst du, der Packer will Angela flach legen?“
„Bis jetzt konnte ich mir das nicht vorstellen, aber guck mal, wie er sie immer angrinst und voll labert.“
Iris kaute lustlos auf dem bei ihr Kopfschmerzen verursachenden Phosphat-Würstchen herum und schwankte zwischen dem Bedauern, irgendwie ausgeschlossen zu sein und dem Gefühl einer eklatanten Überlegenheit; empfand sie doch das Niveau der hier stattfindenden Gespräche als unterirdisch. Zum Glück tauschte dann aber Birgit zur Kuchenrunde den Platz mit Jörg, weil sie etwas mit Imke besprechen wollte, und Iris hatte endlich einen adäquaten Gesprächspartner.
Als Pastor Becker in die Runde fragte: „Und wer hilft mir jetzt beim Abwasch?“, sagte Angela prompt: „Ich.“, ansonsten herrschte Schweigen im Walde beziehungsweise geflissentliches Ignorieren, denn alle waren gerade in spannende Gespräche vertieft, bis auf Cornelia und Petra, die aber auf keinen Fall dem erotischen Abenteuer in der Spülküche im Weg stehen wollten.
Angela war ziemlich aufgeregt, als sie ein Tablett voller Tassen die Treppe herunter trug, befürchtete sie doch, ungeschickt zu stolpern und alles fallen zu lassen. Der Pfarrer trug Teller und Besteck und damit zwar mehr Gewicht, aber ein deutlich geringeres Risiko, dass die Ladung ins Rutschen geriet. Es ging aber alles gut, und Angela ließ, glücklich unten angekommen, das Spülwasser einlaufen. Die Küche eignete sich in keinster Weise, um pornographische Phantasien darin auszuleben: Sie war schmal, die Arbeitsplatten so klapprig, dass sie unter dem Gewicht eines halbwegs ausgewachsenen Menschen zusammengekracht wären, das Licht kalt und das Fenster lag zur Straße, war großflächig und ohne Gardinen.
Trotzdem fand Angela es spannend, ungestört reden zu können.

Der Pfarrer trocknete so schnell ab, dass Angela mit dem Spülen kaum hinterher kam. Sie wollte gerade das Gespräch auf den anstehenden Kindergottesdienst lenken, da lehnte plötzlich Lydia lasziv im Türrahmen. Ihre glänzenden, brünetten, zu einem akkuraten Pagenkopf geschnittenen Haare umrahmten ihr ebenmäßiges, ernstes Gesicht. Sie hätte durchaus attraktiv wirken können, hätte sie nicht jeden derartigen Impuls durch ihr säuerlich tantiges Auftreten bereits im Keim erstickt. Immerhin war es ihr gelungen, einen jungen Mann an sich zu binden, den sie aus der Schule kannte, aber die männlichen Teilnehmer des Jugendkreises hegten eine unverhohlene Abneigung gegen sie. Angela war sich nicht sicher, was der Pfarrer von ihr hielt, sie selbst hätte Lydia in diesem Moment am liebsten zur Hölle gewünscht.
„Soll ich jemanden ablösen?“, fragte Lydia gedehnt.
„Also mich nicht.“, sagte Pastor Becker, „Ich hab' ja eben nicht so hart gearbeitet wie ihr. Aber wie sieht's mit dir aus Angela, kannst du noch?“
„Kein Problem.“
„Ich könnte dich aber ablösen.“, insistierte Lydia. „Du bist hier ja schließlich nicht die Spülfrau.“
„Ach lass mich mal.“, entgegnete Angela. „Das Wasser ist so schön warm.“
Pfarrer Becker grinste, und jeder normale Mensch hätte deutlich gespürt, dass er hier überflüssig war. Aber Lydia war nicht normal. Lydia Meyer beanspruchte für sich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller wichtigen Personen, weil sie sich selbst für wahnsinnig wichtig hielt. Also blieb sie stehen wie eine von multiresistenten Keimen verursachte Infektion und fragte den Pfarrer: „Ist Ihnen eigentlich klar, dass das, was wir da eben gegessen haben, eine ernährungsphysiologische und ökologische Katastrophe war?“
„Nein. Warum denn?“, erwiderte Pastor Becker mit fester Stimme und starrem Gesichtsausdruck.
„Na ja, in den Heißwürstchen sind hauptsächlich Fett, durchgedrehte Schlachtabfälle und chemische Zusatzstoffe, die krank machen. Das Toastbrot hat kaum Ballaststoffe und besteht nur aus leeren Kalorien und im Ketchup stecken Unmengen Zucker.“
„Ach“, sagte er, „meinst du, wir sollten die durchgedrehten Schlachtabfälle erst in psychiatrische Behandlung geben, damit sie nicht mehr so durchgedreht sind, wenn wir sie verwursten?“
„Sie wissen ganz genau, wie ich das meine.“, antwortete Lydia spitz, mit einem nicht sehr gelungenen Versuch, durch ein angedeutetes Lachen mit ihrem Gesprächspartner zu flirten.
„Nee, weiß ich nicht.“, antwortete der. „Ich weiß nur, dass du beim nächsten Mal gern ökologisch biodynamisch kochen darfst, wenn dir das so am Herzen liegt. Ich würde dann aber trotzdem vorsichtshalber Kartoffelsalat und Würstchen mitbringen, damit mir die Leute, die sich nicht überwinden können, deine alternative Suppe zu löffeln, nicht vom Stängel fallen. Sonst noch was?“
Angela konnte sich nur schwer ein Grinsen verkneifen, und sie bedauerte regelrecht, dass sie mit dem Abwasch fast durch waren, versprach es doch, ziemlich interessant zu werden. Lydia war sichtlich erbost und offenbar auch verletzt.
„Ich kann Ihnen gerne mal ein Buch über gesunde Ernährung leihen, dann könnten Sie sich mal auf den aktuellen Stand der Wissenschaft bringen.“
„Das brauche ich nicht. Ich esse, was mir schmeckt, und wenn ich dadurch nur siebzig statt neunzig Jahre alt werde, ist das auch in Ordnung.“
„Aber das mit der Ökologie kann Ihnen als Pfarrer ja wohl kaum egal sein. Schließlich geht es um die Schöpfung.“
„Ja.“, erwiderte er. „Und als Teil dieser Schöpfung weigere ich mich, mir mit pseudo-fundiertem Halbwissen angereicherte Fachvorträge anhören zu müssen, die mich ermüden, weil ich das längst alles weiß. Ob die Kleidung, die du am Leib trägst, ökologisch einwandfrei ist, wage ich ebenso zu bezweifeln wie den wirtschaftlichen Sprit-Verbrauch eures Autos. Und jetzt würde ich hier gern zu Ende abtrocknen und zwar in Ruhe.“
Lydias trotzige Augen füllten sich mit Tränen und sie rannte wortlos die Treppe hinauf. Pastor Becker stöhnte und fragte Angela: „Was meinst du, muss ich da jetzt hinterher und sie trösten?“
„Besser nicht, wenn sie etwas daraus lernen soll.“, meinte Angela.
Der Pfarrer hängte das Geschirrtuch auf und sagte: „Danke. Das sehe ich nämlich ganz genau so.“
Plötzlich stand Annegret Reinkensmeier in der Tür. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Pfarrer ging sie nach oben, um ihre Tochter abzuholen.
Sie begleiteten Nicoles Mutter nach oben, wo alle übrigen noch fröhlich um den Tisch versammelt waren – sich aber schneller zum Gehen wandten, als der Pfarrer 'Danke und auf Wiedersehen' sagen konnte. Nun waren nur noch Iris und Angela übrig, die sich in aller Ruhe warm einpackten, damit sie auf den zwei Kilometern zwischen Holzhausen und Nordhemmern nicht auskühlten. Sie halfen außerdem, alle Möbel wieder ordentlich hinzustellen und das Licht zu löschen, bevor sie das Gemeindehaus verließen.
„Übrigens, Iris“, sagte der Pfarrer, „Ich habe vor längerer Zeit unfreiwillig ein Gespräch zwischen dir und Lydia belauscht. Hättest du denn immer noch Lust, den Jugendkreis zu leiten? Ich meine, du müsstest das ja nicht alleine machen, könntest dir ja auch die Angela mit ins Boot holen, aber die Lydia ist nächstes Jahr um diese Zeit kurz vorm Abitur und könnte da sicher Entlastung gebrauchen.“
Iris fühlte sich geschmeichelt und antwortete: „Also, ich hätte schon noch Lust, aber Lydia meinte, sie müsste das dann mit mir zusammen vorbereiten und dazu hätte sie keine Zeit.“
„Na, dafür gibt’s ja 'ne Lösung.“, erwiderte der Pfarrer. „Ihr könntet euch ja in der Vorbereitung mit Lydia abwechseln, und falls ihr wirklich Unterstützung braucht oder Lydia unbedingt will, dass noch einer über euer Konzept drüber guckt, dann könnt ihr gerne auf mich zurück greifen.“
„Also, ich hätte auch Lust dazu.“, mischte Angela sich ein.
„Ja.“, sagte Iris, „Wenn wir beide das zusammen machen würden, das fände ich auch super, aber ich glaube, Lydia passt das überhaupt nicht.“
„Also es geht hier ja nicht um Lydias Wünsche oder ihre zarte, verwundbare Seele, sondern um den Fortbestand der Jugendarbeit in unserer Gemeinde. Da hab' ich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich regle das mit Lydia und melde mich dann wieder bei euch. Einverstanden?“
Die Mädchen nickten begeistert, verabschiedeten sich und radelten beschwingt nach Hause.

VORHANG – ZWEITER AUFZUG – DU BIST DRAN!

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