Freitag, 5. Oktober 2018
Mikrokosmos – Kurzkrimi in drei Teilen - 1. Teil
Es war tatsächlich kein schöner Anblick. Die Hitze hatte zu extremen Muskelkontraktionen geführt und er sah aus, wie ein überdimensioniertes Brathähnchen. Keller schämte sich für den Vergleich. Der, dessen sterbliche Überreste hier in der ausgebrannten Toilette lagen, war einmal ein Mensch gewesen, der Küster dieses beeindruckenden Meisterwerkes moderner Architektur. Was für ein Glück, dass die Flammen nicht auf den Innenraum der Kirche übergegriffen hatten. Der Tathergang war ziemlich offensichtlich: Jemand hatte den Sanitärraum unauffällig mit reichlich Feuerwerkskörpern gespickt und durch die Lüftung eine Lunte nach draußen gelegt. Sobald der Küster Johann Georg Klaaßen die Toilette aufgesucht hatte, war die Tür mit einem Besen verbarrikadiert und die Lunte gezündet worden. Vermutlich hatte Klaaßen noch verzweifelt versucht, sich aus der Hölle von Lärm, Rauch und Feuer zu befreien, konnte aber nicht entkommen, war erstickt und schließlich verkohlt. Wer kam auf die Idee, so grausam zu töten? Oder steckte am Ende gar keine Tötungsabsicht dahinter?
Kriminalhauptkommissar Stefan Keller wandte sich an seine junge Kollegin Sabine Kerkenbrock: „Finden Sie nicht auch, dass das etwas von Hooligan-Methoden hat oder von denen aus der autonomen Szene?“
„Na, das bedeutet ja nun alles und nichts.“, erwiderte Kerkenbrock. „Da ist ja alles drin von wütenden Fans bis hin zu politischen Extremisten, egal ob links oder rechts. Sieht halt nach extremer Gewalt aus. Meinetwegen auch nach junger, extremer Gewalt. Vielleicht hatte er als Küster Stress mit den Jugendlichen.“
„Gibt es denn hier überhaupt Jugendarbeit?“
„Gibt immer welche - und wenn es nur ein paar Nerds sind, die nicht wissen, wo sie sonst hingehen sollen.“

Bernd Hucke von der Kulturgruppe hatte den Toten gefunden. Nun pirschte er sich an die sich beratenden Beamten heran und erklärte: „Den Rabauken, die hier zum sogenannten offenen Treff kommen, sollten Sie mal auf den Zahn fühlen. Jeden Freitag machen die hier Randale, und am Samstag Morgen musste der Herr Klaaßen immer die Bierflaschen und die Zigarettenkippen einsammeln. Der hat denen so oft die Leviten gelesen und es hat nichts genützt. Noch letzte Woche hat er ihnen erklärt, wenn er noch einmal samstags so eine Schweinerei hier vorfindet, sorgt er persönlich dafür, dass der offene Treff dicht gemacht wird.“
Sabine Kerkenbrock bekam nur die Hälfte von dem mit, was der aufgebrachte Rentner von sich gab. Sie starrte angeekelt auf den Faden aus Speichel, Schleim und Zahnbelag, der sich wie Spinnensekret zwischen Ober- und Unterlippe in die Länge zog.

Auf dem Fahrrad kam ein tätowiertes Wesen mit grünen Haaren und viel Metall im Gesicht auf den Parkplatz gefahren. Es handelte sich bei näherer Betrachtung um ein männliches Exemplar der Gattung Homo Sapiens, das definitiv weniger als zwanzig Jahre alt war.
„Kehrt da wohl der Täter zum Tatort zurück?“, wisperte Keller mit einem ironischen Grinsen, denn der Jugendliche bediente alle Klischees des gewaltbereiten Exremisten. Pfarrerin Angelika Zettel, die mittlerweile ebenfalls eingetrudelt war, eilte dem Jugendlichen entgegen. „Oh Julian, ich glaube Ihr könnt Euch heute nicht treffen, hier ist etwas ganz furchtbares passiert und das Gemeindehaus wird wohl bis auf Weiteres geschlossen.“
Kerkenbrock war der Pfarrerin hinterher geeilt und erklärte: „Bitte schicken Sie niemanden weg. Das Gemeindehaus müssen Sie nicht schließen, ganz im Gegenteil, es wird unsere zentrale Befragungsstelle, sobald wir hier mit der Spurensicherung fertig sind. - Und wer sind Sie?“, wandte sie sich höflich an den Jugendlichen.
„Julian Schlüter. Ich leite die Band von TEN SING.“
„Und ihr seid hier Freitags immer im offenen Treff?“
„Nee, höchstens ab und zu und eher so einzeln. Also ich hab' keinen großen Bock auf die Leute, sind ziemliche Flachnasen. Wir treffen uns hier mehrmals die Woche und heute planen wir eigentlich einen langen Probetag.“
„Das wäre aber mehr als pietätlos.“, funkte Pfarrerin Zettel dazwischen
„Wieso, was ist denn passiert?“, fragte Julian noch immer ahnungslos.
„Der Küster ist in der Kirche verbrannt.“, erklärte Kerkenbrock. „Sie waren nicht zufällig gestern Abend hier in der Nähe?“
„Was? Nein, wieso? Denken Sie etwa, ich hätte Feuer gelegt? Ich meine, Grund genug, hätten wir vielleicht gehabt, aber so was macht doch keiner. Das war bestimmt ein Unglücksfall.“
„Nein, es war Mord.“, erklärte Keller, der in der Zwischenzeit dazu gekommen war. „Warum hätten Sie einen Grund gehabt?“
Julian musste schlucken. „So meinte ich das nicht.“, erwiderte er. „Wie gesagt, keiner von uns würde jemanden umbringen, nicht einmal den Küster, aber Klaaßen hat schon immer reichlich rumgestresst. Am meisten ist er auf die Leute vom offenen Treff los gegangen, die sind zwar nicht die Schlausten und müllen hier oft alles zu, aber sie hätten den mal reden hören sollen, wie der sie beschimpft hat. Da kamen so Sprüche wie „asoziale Brut vom arbeitsscheuen Gesindel“ oder „schwarzgesichtige Muselmänner, die sich in unseren christlichen Räumen breit machen“, da kam uns echt oft genug die Galle hoch. Und der hat dafür nie Lack gekriegt. Die Eltern von den OT-Leuten, die kümmern sich halt nicht so viel, denen ist das egal und wenn wir mal unsere Jugendpresbyterin oder die Pfarrer drauf angesprochen haben, hieß es immer, wir kümmern uns darum und dann ist nie was passiert.“
„Da ist schon etwas passiert.“, widersprach die Pfarrerin. „Wir haben das nur nicht an die große Glocke gehängt. Da haben mehrfach Gespräche mit Herrn Klaaßen stattgefunden. Und kürzlich gab es dann ja auch weitreichende Konsequenzen.“
„Ja, aber nur weil unsere Eltern Sturm gelaufen sind, nachdem er ständig unsere Proben gestört hat und immer meinte wir wären zu laut oder wir würden beim Tische Rücken den Boden vermackeln und lauter so ein Zeug. Ständig hat er in unserem Materialraum rumgepfuscht und behauptet, er hätte aufgeräumt, hat dauernd Sachen weggeschmissen, die wir noch brauchten. Nie durfte irgend etwas von uns mal für zwei Tage stehen bleiben, aber wenn die Kulturgruppe hier ihr Programm gemacht hat, dann hatten die ihr Zeug überall rumstehen, aber das sind ja auch rechtschaffene Rentner und keine dreckigen Jugendlichen.“
„Kommen gleich noch mehr von Euch?“, fragte Keller.
Julian nickte mit dem Kopf.
Nach der eingehenden Befragung der überwiegend behütet aufgewachsenen Tensinger, nahm Kerkenbrock ihren älteren Kollegen vertraulich beiseite: „Ich weiß ja nicht, aber nach allem, was die Teenager über diese Rentnergang erzählt haben, sollten wir uns die vielleicht einmal genauer vorknöpfen.“
„Welche Rentnergang?“
„Na, die Kulturgruppe. Die scheinen ja jeden, der ihnen auch nur im Ansatz in die Quere kommt, direkt fertigzumachen.“

Fortsetzung folgt nächsten Freitag

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